Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 11. Dezember.

Irgendwo habe ich einmal — ich glaube es war bei Wells — von einem grünen Nebel gelesen, der sich über die Erde legte und die Menschen ihrer Sinne beraubte. Der Gedanke an diesen «grünen Nebel» geht mir jetzt nicht aus dem Sinn. Wenn man liest, was unsre Gelehrten, unsre grössten Köpfe, was unsre Dichter, was unsre Philosophen, Kirchenmänner, Künstler, Politiker aller Richtungen sagen, sieht, wie sich ihre Anschauungen verirren, wie sie in der Hypnose sprechen, die einfachsten Widersprüche nicht bemerken, die Vergangenheit verleugnen, vor der Erscheinung des Kriegs wie vor etwas Überirdischem stehen und ihn mit Gott, Kunst und Leben durchdringen wollen, ist es einem, als stünde man auf dem Gipfel eines hoch in die Lüfte ragenden Berges und sähe drunten in den Tälern die Menschen unter dem grünen Nebel zappeln und schreien, als sähe man Irre, Umnachtete, arme Betrogene.

Das Zettelpaket meines Berliner Zeitungsausschneidebureaus lässt mir dieses Zappeln und Schreien immer verstärkter erscheinen. Hie und da einmal eine Stimme, die beweist, dass es Immune gibt, denen der grüne Nebel noch nichts antun konnte. Da finde ich den schon gestern hier angeführten Artikel Hermann Friedemanns über «Die Immobilisierung der Geister» («März», 5. Dezember), dessen Hauptstelle ich hier festhalten will. Sie steht am Schluss und lautet:

«Die traurigsten Gestalten des Krieges sind die Intellektuellen. An ihnen wäre es gewesen, Widerstand zu leisten; während des Kriegs die Güter des Friedens zu retten oder zu schweigen. Statt dessen laufen sie hinter den Soldaten her, fuchtelnd, und unterscheiden sich von der Masse nur durch ihr lauteres Schreien. Leute, denen eine Welt zusammenstürzen musste, überstanden die Wandlung in vierundzwanzig Stunden. Sie dachten an keinen Widerstand. Umlernenkönnen ist etwas sehr rühmliches; aber, so schnell? Während der Soldat dem Feind gerecht war, entäusserten sich Gelehrte mit unanständiger Eile der Ehrenzeichen, die ihnen nicht etwa von Staatsvertretungen des Feindeslandes verliehen waren. Verantwortliche laufen mit fabrikentstandenen geistigen «Nationalabzeichen» umher. Die Listen und Verknüpftheiten europäischer Diplomatie werden in ihren Spiegeln zur Backfisch- und Lyrikerpolitik. Sie sind es, die mit Wollust dem Schlagwort von der «Mobilisierung der Geister» folgten — indem sie die Geister immobilisierten. Wer das Leid des Kriegs erfahren oder empfunden, in aller Unmessbarkeit empfunden hat: der mag, wenn er kann, sein Dennoch! sprechen. Die Geistigen begnügten sich, den Krieg, vom Tag der Mobilmachung an, bildschön zu finden ...»

Aber gleich daneben wieder eine Kundgebung «Intellektueller», die sich gegen das von einigen Mitgliedern der Oxforder Universität herausgegebene Buch («Warum Grossbritannien zu den Waffen griff») richtet, ein Buch, das ich mit wahrhafter Erschütterung und tiefstem Schmerz gelesen habe. Die «Intellektuellen», die ihren Protest «gegen die Vergiftung der geistigen Waffen» überschreiben, weisen vor allen Dingen die Verdächtigung zurück, «als ob Deutschland und der deutsche Kaiser den Krieg gewollt hätten». Ich muss gestehen, dass mir in diesem Buch jene Behauptung nicht aufgefallen ist. Es mag sein, dass sie darin enthalten ist. Was aber in ergreifend grossartiger Weise aus den Darlegungen jenes Buches hervorgeht, ist, dass nicht nur England, sondern auch Italien sich ehrlich und ernstlich bemüht haben, den Frieden aufrecht zu erhalten, dass Frankreich diese Bemühungen unterstützt hat, und dass bei einigem Entgegenkommen Deutschlands und Österreich-Ungarns (wenn namentlich die Regierungen sich nicht auf den gefährlichen Standpunkt gestellt hätten, dass es sich um einen Konflikt der Doppelmonarchie allein mit Serbien handle, was in der Tat nicht wahr war), jene Bemühungen von Erfolg begleitet gewesen wären. Und weiter geht aus jenem Buch hervor, dass der unaufhörliche Rüstungswettbewerb, dass die Lehren Treitschkes und Bernhardis die Situation so verschärft hatten, dass der Konflikt vom Juli dieses Jahres schliesslich zum Weltbrand ausarten musste.

Die «Intellektuellen», die diesen neuen Protest unterzeichnet haben, sind vom grünen Nebel umfangen, der sie naiv macht. Es ist jeder Satz, den sie aussprechen, so unglaublich naiv, so geeignet, durch umfangreiche Widerlegungen richtig gestellt zu werden, dass ich mich begnügen muss, das Dokument mit den Namen der Unterzeichneten hier einfach für sich reden zu lassen. Die Zeit wird kommen, wo der grüne Nebel von der Erde verschwunden sein und den Protestlern von heute ganz von selbst die Erleuchtung kommen wird.

Nach dem Abdruck im «Berliner Tageblatt» (4. Dezember) lautet dieses Dokument:

«Hat Deutschland je einen feindlichen Schritt gegen England unternommen oder auch nur geplant? Hat es sich nicht um ehrliche Freundschaft mit dem Volk bemüht, dessen nahe Stammesverwandtschaft der Kaiser mit dem Wort «Blut ist dicker als Wasser» zu betonen pflegte?

Ist auf der andren Seite den Herren in Oxford unbekannt, dass England, während es vor der Welt Vermittlungsvorschläge machte, in Petersburg wissen liess, es werde hinter Russland stehen? Weiss man in Oxford nicht, dass England dieselbe belgische Neutralität, zu deren Schutz es das Schwert zu ziehen vorgab, durch militärische Verabredungen und Massnahmen längst selbst verletzt hatte mit Zustimmung und Mitwirkung Belgiens?

Die Oxforder geben sich als Historiker und Völkerrechtskenner aus.
Können sie uns sagen, mit welchem Rechte England Indien unterworfen, Ägypten besetzt, die Burenstaaten unterjocht hat? Warum England bis in die jüngste Zeit hinein sich gegen die völkerrechtliche Bindung gesträubt und sich der Pflege des Völkerrechtes entgegengestellt hat, indem es gouvernementale Instruktionen, das heisst englische Interessenpolitik, an die Stelle des Völkerrechts setzte? Warum es auch jetzt wieder von ihm selbst anerkannte Regeln des Völkerrechts mit Füssen tritt?

Wenn je ein Staat in der Welt, so ist es England gewesen, das in seinem politischen Verhalten nur selbstische Zwecke verfolgt, das Recht verachtet, seine Macht hat walten lassen. Die Oxforder aber geben als einzigen Fall englischer Gewaltpolitik den Überfall auf Kopenhagen (1807) zu.

Wir beklagen die Verunglimpfung der Wahrheit und die Herabwürdigung der Wissenschaft, zu welcher sich Oxforder Universitätslehrer erniedrigt haben.

Wir verwahren uns gegen die Vergiftung der geistigen Waffen im Kampfe der Nationen.»

Die Erklärung ist unterzeichnet von den Professoren van Calker, Kiel; Daenell, Münster; Fleischmann, Königsberg; Heinrich Harburger, München; Kohler, Berlin; Laband, Strassburg; Max Lenz, Hamburg; M. Liepmann, Kiel; F. von Liszt, Berlin; Ferdinand von Martitz, Berlin; Erich Marcks, München; F. Meinecke, Berlin; Christian Meurer, Würzburg; Eduard Meyer, Berlin; Th. Niemeyer, Kiel; H. Oncken, Heidelberg; R. Piloty, Würzburg; E. Rachfahl, Freiburg i. B.; Rodenberg, Kiel; Dietrich Schäfer, Berlin; Theodor Schiemann, Berlin; Stier-Somlo, Köln; Karl Strupp, Frankfurt a. M.; F. Tönnies, Kiel; Heinrich Triepel, Berlin und Ph. Zorn, Bonn.

Ich denke, der Freudentag wird kommen, wo alle diese Herren ihre Kundgebung mit den Worten «à la guerre comme à la guerre» richtig einschätzen werden. Es sind viele unsrer bekanntesten Völkerrechtler unter ihnen, die genau wissen, wie schwer man in Deutschland für das Völkerrecht zu kämpfen hatte.

Immerhin erscheinen sie mir doch noch begreiflicher als ein Professor der Rechte aus Marburg, namens Bredt, der dort, wie er selbst mitteilt, auch über Völkerrecht liest. Als Leutnant im Felde stehend veröffentlichte er — wenn auch «als zerschossener und zerhauener Kriegsmann» in einem Berliner Lazarett — im «Berliner Lokalanzeiger» (3. Dezember) einen «Militarismus und Völkerrecht» betitelten Artikel.

Nur der Schluss dieses Artikel sei hier wiedergegeben:

«Überhaupt kann ich das eine sagen:
Die ganzen völkerrechtlichen Abmachungen haben sich auf Seiten unserer Gegner nur als Papier erwiesen und obendrein recht brüchiges. ln unserm deutschen Volke aber hat der Krieg so viele herrliche Mannestugenden heraustreten lassen, wie wir es in unserm materiellen Zeitalter kaum für möglich gehalten hätten. Und wenn man unsre grauen Jungen draussen sieht, muss man so stolz auf sie werden, dass man sagt:
Der deutsche Militarismus ist doch wertvoller als das ganze Völkerrecht

Schöner kann das keiner sagen, als dieser Völkerrechtslehrer, der morgen, wenn er von seinen Wunden genesen sein wird, der deutschen Jugend wieder Vorlesungen über «Völkerrecht» halten wird.

Da fällt mir aus meinem Ausschnittepaket noch ein Feuilleton Karl Schefflers «Gespräch über den Krieg» aus der «Vossischen Zeitung» (6. Dezember) in die Hände, worin der Verfasser je einen Beamten, Kaufmann, Landwirt, Lehrer, höhern Offizier, Rechtsanwalt, Arzt, Künstler und einen Dichter über das Phänomen des Krieges Untersuchungen anstellen lässt. Alle betrachten den Krieg als etwas Unfassbares, über den Erscheinungen Stehendes, etwas Grosses, etwas Elementares, und der Künstler fasste es in die lapidaren Worte zusammen «Was der Krieg in Wahrheit ist, weiss keiner und niemand wird es je erfahren.» Nun haben wir das Problem genau herausgeschält. Ignorabimus !

Wir Toren glaubten einst von Kriegsmache reden zu dürfen, konnten uns der Meinung hingeben, dass diesem mystischen Weltwunder Arrangements, Verabredungen, Willensäusserungen zugrunde liegen, geradeso wie einem Vereinsausflug, einer Theateraufführung, einer Börsenoperation oder dem Betrieb eines Buttergeschäftes. Wir irrten uns, denn es handelt sich um ein «ungeheures Naturphänomen». Man muss sich nur wundern, dass wir dann so ungerecht sind, Russland und England die Schuld an diesem Krieg zuzuschreiben, während wir sie doch folgerichtig als arme Mit-Opfer dieser rätselhaften Naturerscheinung begrüssen müssten.

Am wenigsten scheint mir aber die Ansicht des «Hohen Offiziers» in diese mystische Anschauung hineinzupassen, den der Verfasser folgendermassen sich äussern lässt:

«Beim Ausbruch des Krieges habe ich in einer französischen Zeitung gelesen, der Friede langweile die Völker. Das ist etwas frivol ausgedrückt, hat aber was für sich. Die Völker brauchen den Krieg, wenn sie nicht verfaulen wollen. Auch in ganz unmittelbarem Sinne ist der Krieg der Vater aller Dinge. Man braucht darum gar nicht erst nach seinen Ursachen in jedem Falle zu suchen: er erklärt sich selbst. Es hat mir immer ungeheuer gefallen, dass die Alten den Krieg als den natürlichen Zustand, den Frieden aber als ein seltenes Geschenk ansahen. Der Krieg macht jung und erhält jung, und alles Leben will stete Verjüngung. Wenn ein Volk wachsen will, so führt es einen Krieg. Die Deutschen wollen als Nation noch wachsen, darum ist dieser Krieg ihr Recht, nein ihre Pflicht (an die sie erst durch die Engländer und Russen erinnert werden mussten? A. H. F.) Wer ihn angefangen hat, mag politisch, mag juristisch wichtig sein. Gekommen wäre er aber auf jeden Fall; so oder so. Werkzeuge wie die modernen Volksheere wollen benutzt sein, wenn sie nicht stumpf werden sollen. Die Kanonen schiessen im gegebenen Augenblick von selbst, möchte ich sagen. Und erleichtert spricht der Soldat: Endlich»

Was mag der «Künstler» über diese Auslegung denken, der sich einredet und uns einreden will, es wisse keiner, was der Krieg ist!

Der «grüne Nebel» lagert so Tag für Tag. Was er alles anrichtet, kann man nur andeuten aber nicht schildern. Dass der ehemalige Sozialdemokrat und ewig an Österreich erkrankte Hermann Bahr plötzlich die Militärdiktatur als das Ideal der Staatsverwaltung erklärt («An einen entfremdeten Freund» in der «Tägl. Rundschau», Abendausgabe vom 5. Dezember) sei hier nur nebenbei erwähnt als Material für die künftigen Geschichtschreiber der grünen Nebel-Zeit und die psychologischen Erklärer der Tatsache, warum die deutsche Intelligenz im Jahre 1914 den Kopf verloren hat und auf den Rücken gefallen ist.

Noch einer, politisch recht merkwürdigen Tatsache will ich hier heute Erwähnung tun. Ich entnehme sie einem Telegramm des «Berliner Lokal-Anzeigers» (Morgen-Ausgabe) 5. Dezember. Es kommt aus Wien (4. Dezember) und meldet:

«Die ,Reichspost' erfährt von diplomatischer Seite: Die verschiedentlichen Meldungen über angebliche Absichten massgebender Kreise in Serbien, angesichts der grossen Fortschritte der kaiserlichen Truppen auf serbischem Boden einen Sonderfrieden mit Österreich-Ungarn anzubahnen, um den vollständigen Zusammenbruch des Königreichs zu vermeiden, entbehren jeder Grundlage. Die serbische Regierung ist abhängig von Petersburg, und es geschieht in Serbien heute nur das, was Russland will. Das Zarenreich wird aber nie zugeben, dass sein Vasallenstaat sich mit der Donaumonarchie aussöhnt. Auch von der angeblichen, schon mehrmals gemeldeten Kabinettskrise in Nisch ist an hiesiger unterrichteter Stelle nichts Authentisches bekannt.»

Wenn diplomatische Kreise an der Donau diese Erkenntnis besitzen, so drängt sich einem doch die wichtige Frage auf, warum man sie nicht schon vor dem 23. Juli angewendet hat, wo man sich darauf versteifte, zu behaupten, dass es sich um einen Konflikt handle, der Serbien und Österreich allein angehe, der niemand anderen etwas kümmere. Warum verschloss man sich denn damals, dem von den Diplomaten häufig gemachten Einwand, dass hinter Serbien Russland stehe, und man den Streit nicht durch Lokalisierung beseitigen könne, wohl aber durch Verständigung mit Russland schlichten müsse. Um dieser späten Erkenntnis willen bluten heute die Millionen.