Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Thun, 8. Juli.

Ein beredtes Zeichen der Weltunordnung sind die Postverhältnisse. Ich habe heute einen Brief aus Wien erhalten, der vom 15. Juni datiert ist. Einen anderen ebenfalls aus Wien vom 25. Juni. Aus Deutschland kamen durch vierzehn Tage weder Briefe noch Telegramme oder Zeitungen, ja eine zeitlang wurden nicht einmal Reisende über die Grenze gelassen. Wir werden uns einstens, wenn die Post wieder so arbeitet wie vorher, vorkommen wie unsere Vorfahren nach Einführung von Eisenbahnen und Telegraphie; noch verwunderter als sie, da wir nicht nach allmählicher Entwicklung, sondern plötzlich in eine hochentwickelte Verkehrslage hineinkommen werden. Vielleicht rechnet man dieses Empfinden einer Annehmlichkeit, das uns durch die Gewöhnung abhanden gekommen ist, auch zu den «Wohltaten» des Kriegs. Vorläufig sind aber diese gestörten Postverhältnisse eine Unerträglichkeit, über die wir nicht hinweg können, wie über so manches andere dieser schrecklichen Zeit.

Dieser Tage besuchte mich Y. Z., der als Deutscher bis Mitte Mai in Paris frei herumgehen durfte, und erst als sich gehässige Beschwerden bei der Behörde häuften, Abreisebewilligung nach der Schweiz erhielt. Seine Erzählungen über die Stimmung in Frankreich bei Beginn des Krieges sind höchst interessant. Von einer Angriffslust bei der Bevölkerung, wie es nach der Schilderung unserer Presse der Fall hätte sein müssen, war keine Rede. Man fühlte sich überfallen und war nicht einmal überrascht darüber. Es war tiefe Erschütterung, die sich allenthalben ausgeprägt haben soll und der Wille, die Gefahr, von der man sich solange bedroht gefühlt hatte, endgiltig abzuwehren. Y. Z. schildert den entsetzlichen Eindruck, den das Manifest der 93 Intellektuellen in Frankreich erweckt hat, und die schlechte Position der fortgeschrittenen Franzosen der dort aufstrebenden Reaktion gegenüber durch den Umstand, dass ein Hinweis auf deutsche Proteste seitens der Pazifisten und Sozialisten in Deutschland völlig unmöglich ist.

Ich erwiderte, dass es an solchen Stimmen nicht fehlte. Sie treten allerdings nicht so robust auf wie die chauvinistischen und militaristischen Äusserungen, da hierzu zunächst (infolge der Zensur und der aufgehobenen Versammlungsfreiheit) die Möglichkeit fehlt. Aber trotz der Kriegspsyche ist auch bei uns der Kulturgedanke und der Gedanke an die Pflichten der Kulturwelt nicht so völlig erloschen, wie man in den feindlichen Ländern glauben machen will oder glaubt. Man muss sich dort nur die Mühe geben, ohne Voreingenommenheit (allerdings wie wenige sind heute dazu imstande) diesen Kultur- und Oppositionsgeist zu suchen. Man wird ihn schon finden. Es ist nicht angängig, ihn heute so zu unterstreichen, dass ihn auch der Übelwollende bemerkt. Wer ihn finden will, kann ihn auch innerhalb unsrer stark beschränkten öffentlichen Meinung gewahren.

Ein andrer Besuch — nur für kurze zwei Stunden — der rührige de Jong aus dem Haag. Er plant eine grosse Konferenz des Anti-Oorlograads in Verbindung mit der Schweizer Vereinigung zum Studium der Grundlagen eines dauerhaften Friedens für den Oktober in Bern. Der Plan dürfte verwirklicht werden.

Gestern in Bern G. einen Vorschlag unterbreitet. Das Berner Bureau müsse etwas tun, aus seiner Passivität heraustreten, wo jetzt die pazifistischen Anregungen von allen Seiten emporwuchern. Es wäre gut, wenn man in Bern eine zwanglose Aussprache französischer und deutscher Pazifisten herbeiführen könnte. Die französischen Pazifisten haben es bislang abgelehnt, an den verschiedenen internationalen Veranstaltungen teilzunehmen, die sich mit dem künftigen Frieden befassten. Sie wollen an solchen Verabredungen nicht teilnehmen, solange ihr Gebiet vom Feind besetzt ist. Dies ist begreiflich, da die stark erregte öffentliche Meinung Frankreichs eine gewisse Rücksichtnahme erfordert, deren Ausserachtlassung den Personen wie der Idee gefährlich werden könnte. Ich will daher keinen Kongress, keine Konferenz, kein Programm, sondern eine zwanglose Zusammenkunft derjenigen Personen in Frankreich und Deutschland, die vor dem Kriege jahrzehntelang auf das freundschaftlichste für den Friedensgedanken zusammen gearbeitet haben, und die nach dem Krieg, der ja ein Ende finden muss, mehr denn je verpflichtet sein werden, zusammen zu arbeiten. Wir wollen gar nicht festlegen, was wir besprechen sollen. Nur sehen wollen wir uns. Das Thema wird sich finden und vielleicht auch die Möglichkeit, nachher die einfache Tatsache zu verkünden, dass man zusammen gewesen war. Der Eindruck dieser Nachricht, dass mitten im Krieg Angehörige der feindlichen Länder sich zusammen finden konnten, um die Zusammenarbeit in der Zukunft ins Auge zu fassen, wäre an sich schon nützlich.

Ich habe noch angeregt, dass G. sich nach Paris begebe und mit unsren Freunden aus der Bewegung nach dieser Richtung Fühlung nehme. Möchte allerdings bezweifeln, dass das Berner Bureau bei seiner Führerlosigkeit imstande sein wird, etwas zustande zu bringen.

Helmut von Gerlach schreibt mir (unterm 28. Juni), dass er über mein Buch «Europäische Wiederherstellung» in der «Welt am Montag» gern einen Artikel veröffentlicht hätte, die Berliner Presse aber vor einigen Tagen die Weisung erhalten habe, nichts mehr zu veröffentlichen, was irgendwie mit dem Frieden zusammenhängt, ohne es vorher der Zensur vorzulegen. «Diese Anordnung bedeutet selbstverständlich, dass Ausführungen über den Frieden in Ihrem und meinem Sinn nicht zur Veröffentlichung zugelassen werden». Und da gibt es Leute, die sich nicht genug darüber entrüsten können, dass man seine Meinung nicht eindringlicher bekannt macht.