Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 4. November.

Den Ereignissen zu folgen, ist unmöglich.

Ein Österreich-Ungarn existiert nicht mehr. In Ungarn Republik mit Karolyi an der Spitze, in Böhmen Republik mit Masaryk als Präsidenten, Slavonien selbständig. Deutsch-Österreich selbständig. Die Nationalräte übernehmen die Verwaltung und die Armee, die in voller Auflösung begriffen ist. Die Italiener sind in Trient eingezogen, haben Triest besetzt, anscheinend auch Laibach die unrühmliche italienische «Offensive» gegen das sich zurückziehende und sich auflösende österreichisch-ungarische Heer hat ein Ende, denn der Waffenstillstand ist unterzeichnet worden. Nun haben sie in Wien den «Frieden», jenen «Frieden», der mit dem Tod identisch ist. Mögen sie sich bei jenen wahnsinnigen Politikern bedanken, die sich dem Teufel des reichsdeutschen Pangermanismus verschrieben haben.

Wir, wir allein können mit reinem Gewissen die schwere Zeit bestehen, denn wir haben diesen Krieg nicht gewollt, wir wollten auch diesen Frieden vermeiden. Wir warnten stets vor dem Jusqu’auboutismus und prophezeiten das Ende, das Ausbrennen des Bodens, auf dem wir stehen. Jetzt schwebt alles in der Luft. Jetzt hegt ein krankes, sterbendes Volk auf verwüstetem Boden.

Den Völkern Österreich-Ungarns, die ihre Freiheit gewinnen, jubelt mein Herz zu. Ich traure nur darüber, das, es auf diese Weise kommen musste. Zwei Jahre vor dem Krieg war ich in Trient. Mir blutete das Herz über die niedergedrückte Atmosphäre in dieser Stadt, über die Sehnsucht nach einer Vereinigung mit der italienischen Nation, die aus jeder Luke herausguckte. Ich empfand den Druck, unter dem jene Menschen lebten, und ich freue mich heute mit den Italienern über ihren Einzug in jene Stadt, in der das Bild Dantes am Bahnhof steht. Nur weiter sollten sie nicht streben. Nicht bis Bozen, wo das Standbild Walthers von der Vogelweide den deutschen Geist ankündigt. Aber man hat die Sehnsucht nicht durch Vernunft gestillt. Man hat es der Gewalt überlassen. Wo wird sie Halt machen?

Und das deutsche Volk im Reich! Arme Sünderstimmung. Die Bedingungen der Kapitulation werden seit Tagen erwartet. Man weiß, was sie enthalten werden. Nie Geahntes. Man nannte die Zeit der Invasion durch Napoleon, die Zeit von Deutschlands tiefster Erniedrigung. Sie ist es nicht mehr. So tief wie das blühende, von Leben strotzende, das reiche, große Deutschland jetzt erniedrigt werden wird durch die siegreichen Heere der Welt, die sich durch Deutschlands Machthaber gequält, bedroht, erniedrigt sah, so tief war es zu Beginn des 19. Jahrhunderts nicht erniedrigt. Heute ist das deutsche Volk von Gott und der Welt verlassen. Von seinen Verbündeten getrennt, steht es völlig vereinsamt da. Eine schwere Prüfung! Aber sie wird dem deutschen Volk wohltun. Sie wird es von ihren Verführern, von den Peinigern, von den Ränken befreien, die das Volk selbst in geistige und physische Knechtschaft gebracht haben. Es ist eine bittere Periode, aber auch sie wird eines Tages überwunden sein, und dann wird das deutsche Volk wieder geachtet leben unter den Weltvölkern, nach bitterer Buße dafür, dass es den Schlag der Stunde einer neuen Zeit nicht vernommen hat, Kaiser Wilhelm lebt noch. Aber er will sich dem Volk als Demokrat zeigen. Er veröffentlicht einen Erlass, worin das «ich» zum ersten Mal mit kleinem Anfangsbuchstaben geschrieben ist. Ein trauriger Erlass, der dem Volk versichert, der Kaiser habe sich mit den Wandlungen des Systems abgefunden und worin er voraussetzt, dass sich das Volk mit den Wandlungen des Kaisers abfindet und ihn behält. Ein kläglicher Versuch, sich und seiner Familie den Thron zu retten. Welcher Irrtum!

Der Ton und Inhalt dieser Kundgebung, die noch von den «wunderbaren Leistungen dieses Kriegs» spricht, zeigen, dass der Kaiser den Geist der Zeit nicht erfasst hat. Er versucht es, sich mit dieser Zeit auszugleichen und vor ihr zu kapitulieren mit den Worten:

«Ich aber trete diesen Beschlüssen der Volksvertretung mit meinen hohen Verbündeten bei, in dem festen Willen, was an mir liegt, an ihrer vollen Ausarbeitung mitzuarbeiten, überzeugt, dass ich damit dem Wohl des deutschen Volkes diene.»

Nein! Nein! Nein! Das deutsche Volk wird davon nicht überzeugt sein. Der Mann, dessen Existenz verknüpft ist mit dem Millionenmord, mit der tiefen Schmach und Zerrüttung Deutschlands, hat keinen Platz mehr im neuen Deutschland. Schon deshalb nicht, weil er es nicht einsieht. Sein Verschwinden ist fast die Vorraussetzung der Vollendung eines neuen Deutschlands.

Nun ist auch Fritz Adler der Freiheit wiedergegeben, der Mann, der mit Einsatz seines Lebens vor zwei Jahren Österreich zu retten suchte. Der Schub, den er abgegeben, hat den Staat nicht retten können, aber er hat wie ein Scheinwerfer die Situation erhellt und hat den alten Gewalten gezeigt, wohin ihr System steuert.

Der Waffenstillstand mit Österreich-Ungarn ist unterzeichnet. Der Krieg ist für den Donaustaat aus. Heute nachmittag vier Uhr hat das offiziell zugelassene Morden nach vierjähriger Dauer sein Ende erreicht. Ob auch im Innern des unglücklichen Landes das Morden aufhört, wird die Zukunft lehren.

Ein Extrablatt verkündet die Bedingungen des Waffenstillstandes. Als ich es in der Hand hielt und die schweren, die vernichtenden, die erniedrigenden Bedingungen las, die eigentlich Kapitulation pure et simple bedeuten, fiel mir wieder der Augenblick ein, der mir mein Lebtag unvergeßlich sein wird, wo ich das Extrablatt der «Wiener Zeitung» in Händen hielt, das der Welt die erste Kriegserklärung, die Österreich-Ungarns an Serbien, verkündete:

«Da die königlich-serbische Regierung die Note, welche ihr vom österreichisch-ungarischen Gesandten in Belgrad am 23. Juli 1914 übergeben worden war, nicht in befriedigender Weise beantwortet hat, so sieht sich die k. u. k Regierung in die Notwendigkeit versetzt, selbst für die Wahrung ihrer Rechte und Interessen Sorge zu tragen und zu diesem Ende an die Gewalt der Waffen zu appellieren.»

Die Waffenstillstands-Konvention vom dritten November gibt die «befriedigende Antwort» auf diesen Gewaltappell. Gänzliche Demobilisierung, Auslieferung der Hälfte des Kriegsmaterials, Räumung der besetzten und weiterer eigener Gebiete des Staates, Freigebung der Bahnen, Landstraßen und Wasserstraßen für die Alliierten, Besetzungsrecht der den Alliierten wichtig erscheinenden strategischen Punkte, Heimsendung aller Kriegsgefangenen und Internierten der Alliierten ohne Gegenseitigkeit, Abrüstung und teilweise Übergabe der Flotte, Freigabe der Schiffahrt auf der Adria und der Donau usw. usw.

Das ist das vorläufige Fazit des «Appells an die Gewalt der Waffen».

Die Bedingungen sind gewiss erniedrigend. Aber für wen? Für den Staat Österreich-Ungarn, der nicht mehr besteht, kaum mehr, wohl aber für die alten Gewalten, die diesen Staat regierten und ihn in diesen Krieg hineingeführt haben. Sie sind nicht erniedrigend für die Teile, in die sich das alte Österreich-Ungarn aufgelöst hat. Die Völker dieses neuen Staates werden diesen Waffenstillstand als Ende des unseligen Krieges mit Jubel begrüßen als das Ereignis, das ihre Freiheit, ihre nationale Selbständigkeit, ihre demokratische Verfassung begründet

Dieser Waffenstillstand hat für die Donauländer nicht die Bedeutung, die er für ein national konsolidiertes, freiheitlich gefestigtes Staatswesen hätte. Er vernichtet, aber er errichtet auch ein Neues, ein hoffnungsvolles Neues, er vernichtet etwas, über dessen Vernichtung sich auch die Völker dieses Staates freuen. Es kann neues Leben aus diesen Ruinen blühen.

Widerlich sind nur die Wiener Zeitungsstimmen, die dieses noch im alten Geist wirkende Korrespondenzbureau in die Welt sendet. Es ist Zeit, das dieser abgelebten Einrichtung ein neuer Inhalt gegeben wird. Das Wiener Fremdenblatt schreibt «Wir sind besiegt, aber unsere Waffen sind ruhmreich geblieben.» Sind wir aber froh! Die Waffen, die wir zum Teufel wünschen, die wir dem siegreichen Feind übergeben müssen, sind heute unsere geringste Sorge. Idioten! Wen glaubt ihr noch mit solchen wurmstichigen Phrasen zum besten halten zu können?

Die Entente hat Bulgarien, hat die Türkei, hat Österreich-Ungarn zur Kapitulation gezwungen. Sie hat Deutschland völlig isoliert, jetzt erst richtig eingekreist und hält es in der Hand, wie ein Löwe das geraubte Lamm in seinen Pranken hält. Es gibt keine Rettung mehr für Deutschland. Es hat nicht nur den Krieg, sondern sich selbst auf lange, lange Zeit verloren. Es ist niedergeworfen, so niedergeworfen, so bedingungslos den Siegern ausgeliefert wie es die Jusqu’auboutisten in ihren künsten Träumen nicht zu erhoffen wagten. Armes deutsches Volk! Es ist ein bitteres Erwachen, aber immerhin ein Erwachen, und auch das ist gut.