Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 23. Januar.

Eine herzerquickende Geschichte lese ich in der (Wiener) «Arbeiterzeitung» vom 21. Januar. Sie sei hier festgehalten:

« Held und Händler. Eine Berliner Zeitung erzählt: In einem dicht besetzten Abteil dritter Klasse des D-Zuges Berlin-München spielte sich dieser Tage folgende Szene ab: Man spricht vom Kriege. Eine schwarzgekleidete Frau beginnt zu schluchzen. Sie hat den Mann und den ältesten Sohn im Felde verloren. Ihr jüngster und nunmehr einziger steht vor Ypern. Da zwängt sich ein gutgekleideter Herr im militärpflichtigen Alter, den funkelnden Brillanten am Finger und ebensolchen in der Krawattennadel, schimpfend in das Abteil. In der zweiten und ersten Wagenklasse sei kein Unterkommen mehr zu finden und auch jeder Platz des Speisewagens besetzt. Man rückt zusammen und macht ihm Platz. Er entfaltet ein Zeitungsblatt und studiert eifrig den Anzeigenteil. Ein Soldatentransport fährt singend vorüber. Die Dame in Trauerkleidung beginnt aufs neue zu schluchzen. «Ja, der Krieg, ich hab’ auch meinen Mann draussen in Russland. Wenn’s nur endlich Friede gäb’» sagt eine junge Frau. Grinsend sieht der Mann vom Zeitungsblatt auf und spricht: «Wir müssen alle durchhalten, werteste Frau! Schliesslich machen wir doch alle ein Geschäft! Sie erhalten doch auch Kriegsunterstützung, und Ihr Mann wird Ihnen dazu seine Löhnung schicken, denn draussen braucht er sie ja nicht!» Und dann mit einem vielsagenden Lächeln fortfahrend: «Von mir aus könnte der Krieg noch zehn Jahre dauern!» Ein bärtiger Feldgrauer, das Band des Eisernen Kreuzes im Knopfloch, der die ganze Zeit stumm zum Fenster hinausgesehen hat, erhebt sich wortlos, drängt sich auf den kriegsmutigen Händler zu und haut ihm ohne ein Wort zu sagen, rechts und links ein paar kräftige Ohrfeigen herunter, dass ihm der Hut zum Fenster hinausfliegt. Allgemeines Bravo! Der Handelsmann aber räumt schleunigst das Feld. So geschehen zwischen Jena und Probstzella, 2.30 nachmittags am 10. Januar des Kriegsjahres 1916 ...»

Die «Arbeiterzeitung» fügt hinzu:

«Was nützt eine Ohrfeige, wo so viele sie verdienen würden?»

Gestern den Besuch des jungen Fürsten L., Attaché bei dem jetzt in Bern weilenden ... Gesandten X. Interessantes Gespräch über die Zukunft und die Friedensmöglichkeiten. Ich bezeichnete es als grossen Fehler, dass alle offiziellen und offiziösen Äusserungen über die Friedensbedingungen seitens der Zentralmächte nur ein Gewaltergebnis des Krieges ins Auge fassen, während umgekehrt ähnliche Äusserungen seitens der Entente eine künftige europäische Rechtsordnung in den Vordergrund stellen. Hier wird wiederum ein Imponderabile übersehen. Unvergleichlich grösser wäre der Eindruck auf die Neutralen, wenn auch die Zentralmächte ihre Bereitschaft zur Mitwirkung an einer europäischen Staatenordnung verkünden würden. Ich bin auch der Ansicht, dass eine derartige Erklärung die Friedensbereitschaft bei der Entente erleichtern würde. Dieser Gesichtspunkt muss jetzt nachdrücklichst vertreten werden.

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Im Dezemberheft von «La Paix par le Droit» beschreibt Baron d'Estournelles de Constant in einem Artikel seine erste Aeroplanfahrt, die er im August v.J. (1915) von Créans nach Paris unternommen hat. Eine Stelle hat mich darin besonders berührt. D’Estournelles erwägt während der Fahrt, wer ihm eine solche Möglichkeit noch vor sechs oder sieben Jahren vorausgesagt hätte. Damals, als er vor dem Senat die Luftschiffahrt verteidigte und soviel Skepsis antraf. «Ich erwartete dennoch dieses Wunder und erträumte dabei noch ein anderes. Diese Träume vermengten sich und gestalteten sich zu einem einzigen. Ich träumte, dass Deutschland und Frankreich dem Ansporn des allgemeinen Fortschritts nicht werden widerstehen können, und dass die beiden Länder ihren Interessen durch wechselseitige Konzessionen sicherer als durch einen Krieg entsprechen würden. Ich glaubte und glaube es noch, dass es sich gelohnt hätte, sein ganzes Leben zu geben, damit dieser Traum Wirklichkeit werde. — Die Vorkämpfer der Luftschifffahrt triumphierten. Ich scheiterte

In den «Dokumenten des Fortschritts» (Januarheft) weist der Abgeordnete Gothein nach, dass es bei den Lasten, die der Krieg erzeugt, unmöglich sein wird, noch die Lasten eines erneuten und verstärkten Rüstungswettbewerbs zu tragen.

«Es wird ihnen nichts übrig bleiben, als sie wesentlich einzuschränken. Und kommt ihnen die Einsicht nicht gleich nach dem Kriege, so wird sie die wachsende Finanznot im Frieden zeitigen. Der gegebene Weg dafür ist die internationale Verständigung über die Einschränkung des Rüstungsbudgets. Wozu man sich vor dem Krieg nicht entschliessen wollte, das wird hinterher die Not erzwingen». —

Wenn man bedenkt, dass die Routiniers durch den Bankrott des Rüstefriedens nicht belehrt, nach diesem Krieg von verstärkten, ja verdoppelten Rüstungen träumen, klingen diese Worte aus dem Munde eines Politikers trostreich.