Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 1. Dezember.

Grete Meisel-Hess schreibt im «Zeitgeist» (29. November) in einem «Die Ursache des Krieges» überschriebenen Artikel Folgendes:

«Ursache dieses Krieges war die für alle europäischen Staaten zu gering gewordene Expansionssphäre, die Unmöglichkeit, die Völker der überfüllten Erdteile satt zu machen, ohne gegenseitige Übergriffe, und ohne dass ein Mensch dem andern und ein Volk dem andern die Lebensadern abzuschnüren sucht, einer den andern an den Abgrund drängt. Wo aber nicht mehr genügend Nahrungsspielraum ist, da muss ein Bestreben nach dem Erwerb von Kolonien einsetzen, da kommt es zum Wettkampf über die Beherrschung der Meere, — da entsteht der Krieg».

Das ist grundfalsch und eine gefährliche Darlegung. Sie unterstützt den fatalistischen Glauben an die Naturgesetzlichkeiten des Krieges und die Ohnmacht der Menschen ihm gegenüber. Der Krieg «entsteht» nicht! Er wird in Szene gesetzt. Wenigstens auf unserer Stufe der Entwicklung. Er war einmal der Kampf um den Futterplatz, wie die Jagd einst das Mittel dazu war. Aber die Jagd und der Krieg sind heute nur mehr atavistische Rudimente einer ehemaligen Notwendigkeit. Veranstaltungen, Sport. —

Und wenn Österreich Ende Juli 1914 sich mit Serbien über die strittigen Punkte des Ultimatums in Verhandlungen eingelassen, oder wenn Russland eingewilligt hätte, dass der Krieg zwischen Österreich-Ungarn und Serbien lokalisiert bleibe, wo wären die dem heutigen Krieg unterschobenen Motive geblieben? Wie wäre aus einem serbisch-österreichischen Krieg das Motiv der zu geringen Expansionssphäre, Kolonialdurst, Meeresherrschaft usw. herauszufinden?

Und wieso waren diese Motive nicht imstande 1913 (nach dem Balkankrieg), 1905—11 (während der Marokkokrise), 1875, 1897, 1900 (Faschoda) und bei den verschiedenen andern europäischen Krisen (1904 z.B. während des russisch-japanischen Krieges) sich geltend zu machen?

Nein, nein! Der Krieg «entsteht» nicht mehr aus Expansions- und ähnlichen Bedürfnissen, ist kein Kampf um den Futterplatz mehr. Man sucht ihn nur durch solche Motive zu rechtfertigen. Um den Futterplatz braucht man heute nicht mehr Krieg zu führen, wo Eisenbahnen und Dampfschiffe die gesamte Erdoberfläche den entferntest angesiedelten Bewohnern nutzbar machen. Die Technik des Verkehrs ist der Regulator des Futters! Dass dieser Regulator nicht befriedigend funktioniert, wird durch die aus ganz anderen Gründen aufrechterhaltene und sorgsam gepflegte Institution des Kriegs bewirkt. Nicht durch den Krieg als solchen, sondern durch das System, das mit ihm rechnet und droht, durch das die Freiheit und die Möglichkeiten des Verkehrs gehemmt werden. Die blosse Bewahrung dieses Atavismus hindert den längst dafür gefundenen Ersatz, sich zu betätigen und ihn überflüssig zu machen.

Es ist daher gefährlich, eine Notwendigkeit nachweisen zu wollen, die längst keine mehr ist, und Ohnmacht einem Übel gegenüber zu behaupten, das ebenso durch Willensakt beseitigt werden könnte, wie die Leibeigenschaft, die Inquisition oder die Sonntagsarbeit, wenn man nicht durch falsche Ursachenforschung diesen Willen zu schwächen sucht.

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Kaiser Wilhelm war vor einigen Tagen in Wien zum Besuche Kaiser Franz Josefs. Die «Wiener Abendpost» brachte unterm 30. November einen Begrüssungsartikel, dem ich folgende Stelle entnehme:

«Der erhabene Freund unseres allergnädigsten Herrn wurde stets als hochwillkommener, hochverehrter Gast in den Mauern der Reichshaupt- und Residenzstadt gefeiert. Die Bevölkerung Wiens, die sich hiebei eines Sinnes wusste mit den Völkern der Monarchie, begrüsste in Kaiser Wilhelm das Oberhaupt des treuverbündeten Reiches, den erprobten Freund unseres heissgeliebten Kaisers, den Herrscher, der auf der höchsten Warte seiner Zeit allem, was den Fortschritt und das Glück der Menschheit zu mehren vermag, warmes Verständnis und die wirksamste Förderung zuteil werden lasst. Die ehrfurchtsvollen Begrüssungen galten nicht zuletzt dem Friedensfürsten, der, solange es möglich war, Deutschlands Macht und unvergleichliche Wehrkraft dafür einsetzte, um das Unglück des Kriegs von der Welt fernzuhalten, und der die längste Zeit allen Reizungen und Herausforderungen übelgesinnter Nachbarn mit dem ruhigen Langmut des Starken begegnete. Aber die Feinde wollten es anders».

Die höfische Journalistik scheint durch den Weltkrieg nichts gelernt zu haben. Man wird gut tun, ihr klar zu machen, dass uns der Krieg nicht nur vom Tango, von Fremdwörtern, Nachtcafés, französischen Possen und ähnlichen «Lastern» des Friedens zu befreien berufen ist, sondern auch ihr den Garaus machen muss.