Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Mürren, 16. August.

In der «Norddeutschen Allgemeinen Zeitung» lässt die Regierung die Nachricht, als hätte sie in Petersburg Friedensvorschläge gemacht, als «Erfindung» erklären. Sie fügt aber den bedeutungsvollen Satz hinzu: «Die deutsche Regierung wird vernünftige Friedensangebote, wenn ihr einmal solche unterbreitet werden sollten, gewiss nicht a limine zurückweisen». Das wäre hoffnungsvoll, wenn nicht der nachfolgende Satz diesen eventuellen Friedensangeboten den Makel der Niederlage aufdrücken würde. Er lautet: «Ihrerseits Friedensvorschläge zu machen, wird die Zeit gekommen sein, wenn sich die feindlichen Regierungen bereit zeigen, das Scheitern ihres kriegerischen Unternehmens gegen uns anzuerkennen». Das heisst leider soviel, wie dass man die von den feindlichen Regierungen jetzt zu machenden Friedensvorschläge als Eingeständnis dafür ansieht, dass sie jenes Scheitern zugeben. Ein vernünftiger Friede kann jedoch nur zustande kommen, ehe die volle Erschöpfung eintritt, also nur durch Kompromiss, ohne dass sich irgend ein Teil als besiegt betrachten muss.

Mittlerweile wird ziemlich offen erklärt, dass Deutschland die Absicht habe, bis nach Petersburg vorzudringen, ein Vorhaben, das nach dem beispiellosen Zusammenbruch der russischen Armee nicht mehr so undurchführbar erscheint als früher. Wenn auch einige wichtige Momente dagegen zu sprechen scheinen, so ist die Durchführung nicht ausgeschlossen und, die Dinge genommen wie sie sind und ohne den grundsätzlichen Standpunkt gegen den Krieg dabei aufzugeben, wohl als grosser Vorteil anzusehen. Wenn es auf diese Weise gelingen sollte, Polen und Finnland vom russischen Reiche loszumachen, dieses dadurch von Europa abzusondern, so würde die Logik der Dinge auch diesem Unglück ein Glück folgen lassen. (Die Rüstungen Schwedens scheinen mit dieser Absicht im Zusammenhang zu stehen). Mögen die Lobpreiser des Kriegs darob nicht triumphieren. Es würde nicht der Krieg sein, der diesen Fortschritt zeitigen konnte. Trotz des Kriegs würde er sich ergeben. Denn der Krieg — als Einrichtung betrachtet — war es ja, der Polen und Finnland unterjochte. Ohne diese Einrichtung wären diese Staaten ohnehin frei und brauchten nicht erst durch einen furchtbaren Krieg befreit zu werden.

Es scheint mir, dass eine solche Entwicklung der Dinge, trotz der augenblicklichen Folgen, selbst England nicht unangenehm sein könnte. Und den Gedanken werde ich nicht los, dass mit der Niederwerfung Russlands Deutschland auch für England kämpft. Dies kann ein Mittel zur Erleichterung des Friedensschlusses und ein Weg zur künftigen Annäherung sein.

Die Hoffnung auf die «Logik der Dinge», die schliesslich alles zum Bessern wendet als die Menschen mit ihren Handlungen wollen, ist der einzige Lichtblick in dieser immer dunkler werdenden Zeit. Wenn Deutschland die Entschädigung für seine Opfer nur im Osten sehen wollte, und den Anspruch auf Annexionen im Westen aufgeben würde, so wäre dies ein Glück für die Menschheit. Im Osten könnte es als Befreier auftreten, während es im Westen der Unterjocher wäre. Im Osten könnte es eine hohe Kulturmission erfüllen, während es im Westen eine ausserordentlich hohe Kultur in ihrer Entwicklung nur hemmen würde. Und obendrein könnte durch eine derartig weise Beschränkung der Friedensschluss beschleunigt und ungeheure Opfer erspart werden.

Es wird jetzt die dritte Kriegsanleihe in der Höhe von 10 Milliarden gefordert. Dreissig Milliarden also, die auf dem Altar des Krieges geopfert werden. Es ist nicht auszudenken, welchen Grad des Glückes die Menschheit und vor allen Dingen das deutsche Volk hätte erreichen können, wenn man diese Summen für die Wohlfahrt hätte verausgaben können. Wie können diese materiellen Verluste jemals wieder wett gemacht werden! Was kann überhaupt jemals als Entschädigung dafür erwartet werden? — Die Rechenkunst des Militarismus wird die Probe auf das Exempel niemals bestehen können. Sie wird niemals den Wert des Errungenen in Einklang bringen können mit den dargebrachten Opfern. Diese Erwägung allein wird den Frieden näher bringen müssen.

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Aus Wien meldet X., dass er zur Polizeidirektion zitiert und verpflichtet wurde, jede Propaganda der Friedensgesellschaft während des Kriegs zu unterlassen, wobei ihm im Fall der Wiederholung die Auflösung der Gesellschaft angedroht wurde. Die Propaganda, die als lästig empfunden wurde, bestand in der Verbreitung von Flugblättern, die der Deutschen Friedensgesellschaft gestattet waren: Der Aufruf an die Friedensgesellschaften des Berner Bureaus, ein Aufruf an die Frauen von Ellen Key und meine «Ein Dutzend Wahrheiten». Keine dieser Flugschriften richtet sich gegen den gegenwärtigen Krieg, sie befassen sich vielmehr nur mit der Zukunft und der Gestaltung des künftigen Friedens oder mit der Darlegung der wirklichen Ziele des Pazifismus, die unter dem Schutz des Burgfriedens in so haarsträubender Weise entstellt werden. Tut nichts — der Jude wird verbrannt. Aus Deutschland höre ich heute, dass auch dem «Bund Neues Vaterland» die Auflösung und seinem Vorsitzenden Gefängnisstrafe angedroht wurde, wenn weitere Kundgebungen ähnlich jener gegen die Annexionen erfolgen sollten. Die Zeit ist unserer Menschheitsarbeit nicht günstig und nach dem Krieg wird ein Kampf entbrennen, der sich mit der Idylle unserer bisherigen Arbeit nicht mehr wird vergleichen lassen.

Die Signatur des künftigen Regimes macht sich ja bereits jetzt bemerkbar. Die Siegerstaaten werden den Kultus des Schwertes hochhalten, alles im Staate wird ihm untergeordnet sein. Ist es nicht bedenklich, dass man aus den Verhandlungen der russischen Duma die Auffassung des russischen Volkes, die fortschrittliche Regeneration des Zaren-Staates vernimmt, während man in Deutschland keinerlei Fortschrittssymptome wahrnimmt und in Österreich die schwärzeste vormärzliche Reaktion herrscht? So sehen die Segnungen des Krieges für die siegenden Völker aus.

In Österreich wird die «Friedens-Warte» seit Monaten den Beziehern nicht mehr zugestellt. Die Nummern verfielen der Zensur.

Die Enthüllungen aus den belgischen Archiven, die Englands Schuld an diesem Krieg beweisen sollen, gehen weiter. Wir wissen nicht wes Geisteskinder jene belgischen Gesandten waren, die ihre Berichte so gestalteten, dass die Deutsche Regierung heute mit ihnen sehr zufrieden ist. Sie mögen die beschränktesten Leute sein, da sie aber in einem für Deutschland heute brauchbaren Sinn berichteten, werden sie uns als massgebende Autoritäten aufgedrängt. Ich halte es für einen unglaublichen Fehler der Regierung, den Krieg mit der Politik Eduard VII. rechtfertigen zu wollen, ein Unternehmen, das nur in einer Periode völliger Presseunfreiheit möglich ist. Der Tag wird kommen, wo man ernsthafte Kritik an dem Versuch üben wird, das von den Pädagogen längst über Bord geworfene Prinzip vom guten Gottlieb und bösen Dietrich in die Politik einzuführen.

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