Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 28. November.

Der vierte Kriegsmonat ist beendet. Im Westen ist alles auf dem gleichen Standpunkt. Im Osten wütet die Riesenschlacht.

Auf der Rhede von Sherness ist ein englischer Kreuzer in die Luft gegangen. Wie die englische Admiralität «beruhigend» erklärt, aus innerer Ursache. Das heisst, nicht durch einen feindlichen Eingriff. Von 700 Mann blieben 12 am Leben. Sonst gab ein derartiges Ereignis den fremden Marinen Anlass, ihr Beileid auszudrücken. Jetzt unterlässt man es schicklicherweise. Wann war die Handlung ehrlich? — Ich glaube, jetzt.

Wehberg hat die Redaktion der Zeitschrift für Völkerrecht niedergelegt. Will nicht den einseitigen Standpunkt Kohlers teilen. Das ist eine verdienstvolle Tat. Sie zeigt, dass doch nicht alles fortgerissen wird durch den Kriegstaumel.

Bezüglich Belgiens fährt die deutsche Regierung fort, nachträglich Beweise zu erbringen, dass Belgien seine Neutralität insofern gebrochen hat, als es eine gemeinsame Aktion mit England gegen Deutschland verabredete. Zu diesem Zwecke werden Dokumente veröffentlicht, die im belgischen Kriegsministerium gefunden wurden.

Die letzte Veröffentlichung, die dieser Tage durch die «Norddeutsche Allgemeine Zeitung» vorgenommen wurde, war durch einen Faksimileabdruck bekräftigt.

Es handelt sich um eine Verabredung, die der belgische General Ducarme mit dem englischen Militärattaché Bernardiston im jahre 1906 gepflogen hat, über eine Landung englischer Streitkräfte in Belgien. Der Bericht enthält aber bereits im ersten Absatz eine Stelle, aus der hervorgeht, dass es sich um eine Kooperation handle «für den Fall ... dass Belgien angegriffen würde.» Auch ist darin vermerkt, dass der englische Militärattaché durch das Abkommen «seine Regierung nicht binden sollte

Offensichtlich handelte es sich, dem Inhalt des ganzen Schriftstückes nach, um eine Verabredung von Militärpersonen zur Vorbereitung einer künftig notwendig werdenden Verteidigung.

Es muss die Frage aufgeworfen werden, ob Deutschland in den zahlreichen Schriften seiner Militärs den Durchmarsch durch Belgien angekündigt hat. Ich vermag das nicht zu übersehen, glaube aber, dass diese Massnahme in den zahlreichen Zukunftsschilderungen des kommenden Kriegs offen zugegeben ist. Dann darf den belgischen Militärs nicht verübelt werden, dass sie Gegenmassnahmen verabredeten.

Schwerwiegender ist das Schriftstück vom 28. April 1912, wonach der englische Militärattaché Bridge, dem belgischen Generalstabschef Jungbluth gegenüber die Äusserung getan haben soll, dass die englische Regierung während der letzten Ereignisse (Agadirkrise) unmittelbar eine Landung in Belgien vorgenommen hätte, auch wenn Belgien sie nicht verlangt haben würde.

Das ist gleichfalls kein Beschluss der englischen Regierung, und man weiss nicht, ob sie die kühnen Absichten ihres Militärattachés zu den ihrigen gemacht hätte. Aber auch diese Absicht der Militärs geht nur von der Voraussetzung eines deutschen Einmarsches in Belgien aus.

Die «Norddeutsche Allgemeine Zeitung» sieht nun den Neutralitätsbruch Belgiens darin, dass Belgien Deutschland von der Absicht Englands nicht unterrichtet habe, dass es von vornherein bereit war, sich den Feinden Deutschlands anzuschliessen. Diese Argumentation ist bei den Haaren herbeigezogen. Erstens hat Deutschland die Bedrohung Belgiens durch seine Militärschriftsteller nicht gehindert, Belgien fühlte sich auch nicht durch England und Frankreich bedroht. Es wollte sich ihnen nicht «anschliessen», sondern durch sie ihre Neutralität schützen lassen, wenn es angegriffen werden sollte. Das ist nicht, wie es in der «N. A. Z.» heisst, dass es «von vornherein entschlossen» war, «sich den Feinden Deutschlands anzuschliessen», sondern dass «von vornherein» die Bedrohung seitens Deutschland da war.

Von diesen Gegenmassnahmen Belgiens hat man aber am 4. August in Deutschland gar nichts gewusst. So hat Deutschland bewusst die Neutralität Belgiens verletzt und sucht dies jetzt nachträglich zu rechtfertigen.

Es muss auch die Frage aufgeworfen werden: Hat die deutsche Regierung und der deutsche Generalstab niemals die Möglichkeit eines Durchmarsches ins Auge gefasst und sich nie damit befasst?

Diese Frage verneinen, hiesse die Tüchtigkeit des Generalstabs in Frage stellen. Wenn man sie jedoch bejaht, wird der Regierung Deutschlands das Recht genommen, England einen Vorwurf daraus zu machen, dass es das selbe getan hat, Belgien einen Vorwurf zu machen, dass es den Absichten Deutschlands rechtzeitig vorzubeugen suchte.