Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 3. Juni.

Der Krieg dauert zu lang. Das Gute, das er, vielleicht, hätte zeitigen können, geht in Fäulnis über, und die Übel, die er zeitigen musste, wuchern ins Unendliche und fangen an, zu ständigen Einrichtungen zu werden. All der Schlamm an Ideen, den der Krieg aus dem Grund an die Oberfläche emporgewirbelt, auf dessen baldiges Verschwinden mit nachfolgender Klärung man bei kurzer Kriegsdauer hätte rechnen können, bleibt oben, verdichtet sich, setzt sich fest. Drei Jahre sind eine lange Frist, und was bei kurzer Dauer der anormalen Zustände keinen Anspruch auf Stabilität gemacht und sich mit der vorübergehenden Scheingeltung zufrieden gegeben hätte, hat sich nun an das Dasein und die übernommene Rolle gewöhnt und hält sich als das natürliche und berufene Ergebnis und Trägertum einer «neuen Zeit». Die Menschen fangen allmählich an, zu vergessen, dass im günstigsten Fall erst nach dem Krieg eine «neue Zeit» geboren werden kann. Da der Krieg nicht enden will, beginnen sie die Kriegszeit selbst als die «neue Zeit» anzusehen. Sie machen aus der eiternden Not eine Tugend, und Millionen, die sich geistig und sozial nicht rühren können, glauben auch daran, wie sie an tausend andere Dinge geglaubt haben, die Staat, Kirche und Schule ihnen eingeredet haben. Sie glauben an die «neue Zeit», wie sie an die «große Zeit» glaubten, und die dienstfertigen Nutznießer der Konjunktur überbieten sich, dem gläubigen Volk die Phrase ins Gehirn zu hämmern. Neue Zeit! — Oh! So neu wie die Todeszuckungen eines Sterbenden. So neu wie für uns, die wir hofften und gekämpft haben, der Zusammenbruch einer Kulturepoche nur sein kann. Wir sterben und singen lustige Weisen dazu.

Der Krieg dauert zu lang. Drei Jahre unumschränkte Militärgewalt in allen Ländern lässt die Demokratie verkümmern, von deren Aufschnellen nach kurzem Druck man so viel erwartete. Die von der Militärgewalt eingesetzten und verwalteten Ideen setzen sich fest, die Träger dieser Ideen marschieren an der Spitze, und das zarte Pflänzchen demokratischen Geists ist durch den langen Druck, dem es ausgesetzt blieb, zermalmt worden. Man wird den Namen beibehalten, aber das dauernd gewordene Provisorium damit schmücken. Die Demokratie des Exerzierreglements und des Zivildiensts werden die Errungenschaften der «neuen Zeit» sein.