Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Thun, 10. Juli.

In der «Norddeutschen Allgemeinen Zeitung» wird erwähnt, «dass vor den Sozialdemokraten auch andre Organisationen bereits mit der Formulierung ihrer Forderungen für den künftigen Frieden vorangegangen waren». Gemeint ist damit eine Eingabe, die eine Anzahl wirtschaftlicher Verbände (Bund der Landwirte, Deutscher Bauernbund, Westfälischer Bauernverein, Zentralverband deutscher Industrieller, Bund der Industriellen, Reichsdeutscher Mittelstandsverband) im Mai dem Reichskanzler übermittelt hat. Darin wird als Kriegsziel neben einem Kolonialreich, einer Sicherung der Zoll- und handelspolitischen Zukunft und einer ausreichenden Kriegsentschädigung, folgendes gefordert:

Belgien.

Von Frankreich das Küstengebiet bis zur Somme. Das Erzgebiet von Briey. Die Festungen Verdun und Belfort, den westlichen Abfall der Vogesen. Die Bewohner all dieser Gebiete dürfen keinen Einfluss auf die Geschicke des Deutschen Reichs erlangen.

Im Osten Erwerb eines Landwirtschaftsgebiets, das ein Gegengewicht zu dem im Westen erworbenen industriellen Machtzuwachs bedeutet. Angliederung mindestens von Teilen der Ostseeprovinzen und der südlich davon liegenden Gebiete. Auch hier Verweigerung der politischen Rechte an die Bewohner der annektierten Landesteile. —

So stellen sich nun massgebende Kreise des deutschen Volkes das Ergebnis eines Kriegs vor, den der Kaiser zu Beginn mit den Worten gekennzeichnet hat: «Wir führen keinen Eroberungskrieg». So stellen sie sich die Sicherung des Friedens vor. Ja, sie behaupten sogar, alle diese Forderungen seien eben nicht aus Eroberungs- oder Unterjochungslust erhoben, sondern aus Friedenssehnsucht. Nur durch den Besitz jener Gebiete könne sich Deutschland vor ähnlichen Überfällen in Zukunft hüten. Das ist eine Verdrehung. Ein Programm wie dieses ist ein Eroberungsprogramm, eingegeben von dem Willen, fremden Besitz des Besitzes wegen sich anzueignen. Die Erfüllung dieses Programms bedeutete die Fortsetzung der Überrüstungen in Europa und für ein Jahrhundert den Triumph des Kriegs. Wenn der Krieg zu solchen Ergebnissen führen kann, dann ist es Pflicht eines jeden Landes, alle andern Kulturaufgaben beiseite zu lassen und sich nur dem chancenreichen Gewerbe des Kriegs hinzugeben. Das bedeutet die Verewigung der Anarchie, den dauernden Kriegszustand, also nichts weniger als die angeblich erstrebte Sicherheit des Reichs und einen auf lange hinaus gesicherten Frieden.

Es hat dies aber noch viel schwerwiegendere Bedeutung.

Um dieses Programm durchzuführen, ist erst die volle Niederlage der mit Deutschland im Krieg befindlichen Staaten notwendig. Angenommen, dass dies technisch möglich ist, so würde das nach einem solchen Kampf übrigbleibende Europa auf ein Jahrhundert hinaus ein Trümmerhaufen sein, und auch das siegende Deutschland wäre nach einer solchen Kraftanstrengung derartig erschöpft, dass selbst die Eroberungen es für die erlittenen Verluste nicht mehr entschädigen könnten. Es wäre ein Pyrrhussieg.

Dieses Programm bedeutet aber vor allen Dingen die Gefahr, dass die Gegner, die solche Einbusse erleiden sollen, ihre letzten Kräfte zusammenraffen werden, um sich zu wehren, so dass am Ende doch noch ihre numerische Überlegenheit gegenüber Deutschland zur Geltung kommen könnte. Es ist nicht daran zu denken, dass selbst bei der jetzt günstigen Lage Deutschlands die andern Staaten auf einen solchen Frieden eingehen würden. Diese Forderung bedingt also, dass der Krieg fortgesetzt werde und der ersehnte Friedensschluss noch auf lange hinausgeschoben werden muss. So werden neue Opfer auf die alten gestülpt ohne Sicherheit, dass jenes Ziel je erreicht werde.

Dieselben Kreise, deren Arbeit Deutschland in den Krieg hineingestürzt hat, sind es jetzt, die den Friedensschluss verhindern und Deutschland der Möglichkeit einer Niederlage aussetzen. Denn der zu erwartende Kampf mit einer notorischen Übermacht bis aufs äusserste muss die Möglichkeit einer Niederlage erwägbar machen.

Nirgends ist gesagt, dass die Regierung diese Strömung unterstützt; in Wirklichkeit tut sie es, indem sie sie nicht mit allem Nachdruck unterdrückt. Gerade wie die Kriegsphantasien der verschiedenen Parteien und Organisationen von der Regierung keine Zurückweisung erhielten, bis es durch diese passive Unterstützung diesen Schreiern gelang, den Krieg zur Tat zu machen, so werden sie jetzt Deutschland um die Chance eines günstigen Friedensschlusses bringen, den es nach der jetzigen Kriegslage erreichen könnte und es in ein äusserst gefahrvolles Abenteuer hineinstürzen, dessen Folgen das deutsche Volk teuer bezahlen könnte.

Was not tut, ist ein autorativer Klaps auf die Mäuler jener Weltunterjocher und ein energischer Ruck der Regierung nach der pazifistischen Seite. Das vielleicht als harmlos angesehene Vergnügen dieser Weltverteiler und Friedensstümper kostet täglich neues Blut.