Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 2. Juli.

Das «Berliner Tageblatt» war Ende Juni vom Oberkommando in den Marken verboten worden. Am nächsten Tag konnte es wieder erscheinen mit einer Erklärung des Oberbefehlshabers an der Spitze:

«Das Erscheinen des ,Berliner Tageblatts’ ist von mir wegen des in Nr. 323 veröffentlichten Artikels ,Die Kriegsziele der sechs Verbände’ verboten worden. Dieser Artikel stellt insofern eine ungewöhnlich schwere Störung des Burgfriedens dar, als darin grossen wirtschaftlichen Organisationen der schwere Vorwurf gemacht war, dass sie im Dienste ,ganz einfacher Beutelinteressen der Krieglieferanten den Krieg bis ins Endlose fortgesetzt’ sehen möchten.

Nachdem die Chefredaktion des ,Berliner Tageblatts’ mit Schreiben vom 28. Juni 1916 ihr Bedauern über diese Veröffentlichung mit der Versicherung ausgesprochen hat, in Zukunft den bestehenden Zensurvorschriften hinsichtlich der Wahrung des Burgfriedens nach bestem Ermessen mehr als bisher nachzukommen, hebe ich das Verbot des ,Berliner Tageblatts’ hiermit wieder auf.

Ich erwarte, dass die Redaktion des ,Berliner Tageblatts’ der gemachten Zusage in Zukunft peinlichst entsprechen wird und mache auf die Folgen etwaiger erneuter Zuwiderhandlung aufmerksam.

Dieses Schreiben ist an der Spitze der ersten wieder erscheinenden Nummer im Wortlaut zu veröffentlichen.

Der Oberbefehlshaber:
v.
Kessel, Generaloberst.»

Wer dem deutschen Volk noch vor zwei Jahren solches für möglich erklärt hätte, wäre ausgelacht worden. Russland, Russland über alles! — Notwendigkeit? Gut. — Ton und Fassung dieses Erlasses sind nicht der einer Stelle, die sich der Ausübung einer unangenehmen Notwendigkeit bewusst ist, sondern etwa einer solchen, die sich als ein Element der göttlichen Weltordnung fühlt.

Die Stelle in dem Artikel, die nach Meinung des Oberkommandos den Burgfrieden stört, lautete:

«Für ebenso selbstverständlich aber halten wir es, dass wir nach einer Veröffentlichung der Sechs-Verbände-Denkschrift volle Freiheit haben müssen, unsere Meinung über die Denkschrift und über ihre Urheber auszusprechen, und natürlich auch über die Motive, von denen die Verfasser und ihre Hintermänner bei der Aufstellung ihrer Forderungen geleitet worden sind. Man wird dann sehen, ob die Beweggründe der grossen Kriegslieferanten bei Abfassung der Denkschrift ,nationale’ waren, wie sie behaupten, oder ob es sich um ganz einfache Beutelinteressen, wie ihnen vorgeworfen wird, handelt, denen zuliebe der Krieg bis ins Endlose fortgesetzt werden soll. Es ist klar, dass man von alledem nicht wird sprechen können, ohne den Zusammenhang zu berühren, der schon vor dem Krieg zwischen einem Teil der Schwerindustrie und den auf eine Erhitzung des Chauvinismus gerichteten Bestrebungen bestand und jetzt weiter besteht».

Oh, rühre, rühre nicht daran!

Da fällt mir gerade heute ein Satz der Suttner in die Hände, den sie 1908 geschrieben:

«Russland braucht Kanonen. Vertreter von Krupp, Schneider und der Skodawerke sind in Petersburg anwesend. Die russische Regierung wird nach den Modellen in ihren eigenen Geschützfabriken arbeiten lassen, aber vielleicht auch einen Teil ihres Bedarfs den ausländischen Firmen zur Arbeit übergeben. In diesem Fall kämen die österreichischen mit den deutschen und französischen Fabriken in Kombination. Also ein internationales Syndikat zur Herstellung von Vernichtungswerkzeugen für Kriege zwischen den Syndikatsmitgliedern. Wer da nicht auflacht, hat keinen Sinn für Humor».

Seit 1908 ist uns aber über diese Dinge das Lachen vergangen.

* * *

Unter der Überschrift «Durchschaut» macht folgende Notiz die Runde durch die nationalistische deutsche Presse («Magdeburgische Zeitung», 24. Juni, «Dresdener Anzeiger», 24. Juni, «Frankfurter Oder-Zeitung», 24. Juni):

«In manchen sozialdemokratischen Kreisen, die seit Jahr und Tag für den Gedanken der Abrüstung geschwärmt haben, ist man der Ansicht, die deutsche Regierung habe dadurch, dass sie im Jahr 1907 auf der zweiten Haager Konferenz den englischen Abrüstungsantrag verwarf, zur Schürzung des Knotens beigetragen, der schliesslich die Weltkatastrophe herbeiführte. Gegen diesen Standpunkt wendet sich im Organ des Zentralverbandes der Zimmerer (im «Zimmerer») Ad. Thiele mit Ausführungen, die nicht nur sachlich überaus treffend, sondern auch wegen der Parteistellung des Verfassers sehr beachtenswert sind. Thiele erscheint der englische Abrüstungsantrag als das geschickt ausgesuchte Mittel, vor dem Ausland das Deutsche Reich, das als Gegner des Abrüstungsantrags bekannt war, für die Macht auszugeben, die auf ihre militärische Stärke poche und auf Grund dieser Stärke im geeigneten Zeitpunkt über ihre Nachbarn herfallen wolle. Tatsächlich ist nach dem Ausbruch des Kriegs in Dutzenden von Artikeln ausgestreut worden: schon aus Deutschlands Haltung von 1907 gehe sein Hinarbeiten auf einen Krieg hervor. In Wahrheit hat Deutschland durch die Ablehnung des englischen Abrüstungsvorschlages nur getan, was gegenüber der Absicht Englands, sein Übergewicht zur See unter allen Umständen aufrecht zu erhalten, geboten war. Dass aber England von solcher Absicht geleitet war, beweist ein von Thiele angezogener Bericht, den der belgische Gesandte in London, Graf Lalaing, am 28. Juli 1906 auf Grund einer Erklärung des englischen Marineministers seiner Regierung erstattet hat.

Thiele misst dieser englischen Taktik mit Recht erhöhte Bedeutung deshalb bei, weil die beabsichtigte Einkreisung Deutschlands schon damals im vollen Gang war. Den Beweis hiefür bringt der genannte sozialdemokratische Verfasser durch die Wiedergabe entsprechender Mitteilungen, die der belgische Gesandte in Berlin, Baron Greindl, am 14. Oktober 1905 und am 5. April 1906, der belgische Gesandte in Paris, Leghait, am 6. März 1906, der Franzose Delaisi in seinem 1911 veröffentlichten Buch «La guerre, qui vient» gemacht haben. Diese schlagenden Zeugnisse stellt Thiele der noch jüngst von dem Friedensfreunde A.H. Fried vertretenen Auffassung gegenüber, dass Deutschland nicht eingekreist worden sei, sondern sich, und zwar nicht zuletzt durch seine im Haag eingenommene Haltung, selber ausgekreist habe. Da hier ein drastisches Beispiel veranschaulicht, wie leicht die friedensfreundliche Publizistik Frieds auf eine Förderung der Kriegspolitik Englands hinausläuft, ist die Ablehnung der Weisheit Frieds durch einen Sozialdemokraten besonders erfreulich. Dasselbe gilt von der Nutzanwendung, die Thiele aus der Praxis Englands herleitet, sein Kohlenmonopol als Handhabe zur Drangsalierung der Neutralen auszunützen. ,Das sind Tatsachen’, folgert Thiele, ,welche beweisen, welche zermalmende Eingriffe sich Deutschland gefallen lassen müsste, wenn es auf Gnade und Ungnade der englischen Bourgeoisie beim Friedensschluss angewiesen wäre'».

Herr Adolf Thiele hat gar nichts «durchschaut». Er ist vielmehr sehr an der Oberfläche haften geblieben, denn auf der Haager Konferenz von 1907 hat es sich gar nicht mehr um das Abrüstungsproblem gehandelt. Dieses war ja schon vorher auf Verlangen Deutschlands von den Beratungen ausgeschlossen worden. Die Hauptopposition Deutschlands im Haag richtete sich gegen den Grundsatz eines obligatorischen allgemeinen Schiedsvertrags. Herr Thiele und seine Nachbeter vergessen nur, dass das Haager Werk mit der ersten Konferenz von 1899 begonnen wurde, zu einer Zeit, wo von der sogenannten «Einkreisung» noch nicht die Rede war. Über jenen Zeitpunkt schweigen die belgischen Gesandten. Wir haben aber darüber unter anderm das Zeugnis des amerikanischen Botschafters am Berliner Hof, Andrew D. White, der sich des besondern Vertrauens des deutschen Kaisers erfreute, und der uns in seinen Lebenserinnerungen ein reiches Material über die damalige Haltung Deutschlands und über deren Wirkung gegeben hat.

Die Notiz ist daher ein lehrreicher Versuch, eine unangenehme Wahrheit durch besondere Darstellung von Tatsachen zu entstellen. Meine Auffassung, dass Deutschland keineswegs eingekreist wurde, sondern sich selbst ausgekreist hat und dass dabei die Haltung der Reichsregierung auf den Haager Konferenzen von 1899 und 1907 besonders mitgewirkt hat, halte ich aufrecht. Die Haager Konferenzen waren nichts anderes als der Versuch, Europa aus jener gefährlichen Atmosphäre herauszuführen, von der man mit Sicherheit annehmen konnte, dass sie eines Tages zur Explosion führen müsse.