Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 29. März.

Die Pariser Konferenz ist vorgestern zusammengetreten. Sie setzt sich aus den führenden Politikern und obersten Heeresleitern aller sechs verbündeten Staaten zusammen. Von ihren Beschlüssen erfährt man noch nichts, aber aus den Schilderungen des Beiwerks erkennt man, dass man ihr seitens der Beteiligten grosse Wichtigkeit beilegt. Möglich, dass dies zutrifft. Für uns liegt die Bedeutung dieser Konferenz nicht in dem, was sie ist, sondern in dem, was sie hätte sein können. Mit Wehmut denke ich daran, dass ein Instrument wie dieses das Heil Europas gewesen wäre, just eine solche Zusammenkunft ist es ja, die wir erstrebten, in der wir das Embryo einer künftigen Organisation der Kulturwelt sahen. Weinet Mütter! Reisst Euch die Haare aus, ihr Freunde der Menschheit alle! Eine solche Konferenz im Juli 1914, an der neben den sechs jetzt beteiligten Staaten, auch die vier jetzt nicht daran beteiligten vertreten gewesen wären, hätte all den Millionenaufwand, die Ruinen, den Hass, die Meere von Blut und Tränen ersparen können. Und wir, die wir eine solche Konferenz forderten, wir sollen die Schädlinge, die Komischen, die Vaterlandsverräter sein, und jene, die frevelhaft «Los von Europa» schrien, den Staatsmännern den irreführenden Rat gaben «Lassen Sie sich auf keine Konferenz locken!», das wären die Patrioten, die «ernsten Männer», die Freunde von Volk und Menschheit gewesen? — Über das Urteil der Geschichte ist mir nicht bange. Wenn erst wieder die Sonne der Vernunft scheint, wird das Geschmeiss der Pseudopatrioten in pestgelber Färbung vor aller Augen stehen. —

In wachen Träumen sehe ich an jenem grünen Tisch der «Salle d’horloge» in Paris neben Franzosen, Engländern, Russen, auch Deutsche, Österreicher und Ungarn sitzen. Und alles wäre gut. Alles! -

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«Der kommende Mann». — Der «kommende Mann» in Österreich. Wer ist das? — Ein sonderbarer Wiener Artikel der «Neuen Zürcher Zeitung» (28. März) belehrt uns, dass dies Graf Berchtold sei. Einer jener süsslichen Schmock-Artikel, wie sie die Wiener Presse täglich zeitigt, schweifwedelnd, lächelnd, auf Leichenhaufen noch tänzelnd, völlig sicher sich fühlend gegen die Kritik der Leser, macht uns in diesem Schweizer Blatt die vertraulich-ernste Mitteilung, dass Graf Berchtold, der eben das Hofamt eines Obersthofmeisters des Thronfolgers verliehen erhielt, zu Grossem bestimmt sei. Ein ganz widerliches Produkt dieser Aufsatz, der einem Gefallenen wieder Kredit verschaffen soll, der einen Staatsmann «lancieren» will wie ein Ballettmädel oder eine Soubrette. Geheimnisvoll raunt uns der Soldschreiber zu: «In der Wahl dieses Mannes (zum Obersthofmeister des Thronfolgers) liegt ein politisches Programm!» Ein Programm? Und welches? Nun zu Eingang seines Aufsatzes meint der Schreiber mit einer gewissen revolutionären Allüre: Bah! «Hofämter sind ja heute nicht mehr, was sie einst waren zur Zeit der absoluten Herrschaft». Aber am Ausgang des Artikels lesen wir: «Der Obersthofmeister des Erzherzogs-Thronfolgers bekleidet ein Hofamt und gehört zu den unverantwortlichen Ratgebern. Vom rein verfassungsmässigen Standpunkt aus kann man es bedenklich finden, (welch grossmütige Konzession) einem Hofbeamten politischen Einfluss zuzumuten, aber (das ist eben das historische «aber») wir sind in Österreich-Ungarn nicht in der glücklichen Lage, die Dinge nur (!) vom verfassungsmässigen Standpunkt aus zu betrachten. Ein Land, das infolge der Ungunst der Parteiverhältnisse (wie neckisch: «Ungunst»!) seit mehr als anderthalb Jahre absolut regiert werden muss (!!), darf nicht zimperlich sein!» Darf nicht zimperlich sein! Soll sich also den Mann des Ultimatums an Serbien in seiner Verkleidung als Hofmarschall, als Diktator für innen und aussen gefallen lassen. Und warum? — Die Antwort folgt unmittelbar: «Graf Berchtold ist ein sehr gescheiter Politiker, deren wir in der Monarchie nicht allzuviele besitzen». Man weiss nicht, soll man die Monarchie bedauern oder den Frechling, der solches zu schreiben wagt.

Die Völker Europas wälzen sich in ihrem Blut, die Söhne Österreich-Ungarns bleichen auf den Ebenen Polens, den Felsklüften Serbiens und am rauhen Gestein des Karsts. Die Hoffnung auf ein neues Europa, auf wahrhaft demokratisch regierte europäische Staaten bildet die einzige Leuchte in dieser Nacht der Verzweiflung. Und ein smokingbekleideter Schreibtischbold wagt es, Europa, wagt es, den Völkern der Monarchie, den Mann des 23. Juli 1914, den Mann der an der Wiege des Weltmassakers gestanden, als den «kommenden Mann», als den gescheiten Politiker, «deren wir in der Monarchie nicht allzuviele besitzen», anzupreisen. Soll ein Schreiber, der das Ansehen der Doppelmonarchie in solcher Weise schädigt, seine einzige Strafe darin sehen, dass er seinen armseligen Einsatz — hoffentlich — auf ein falsches Pferd gesetzt hat? —