Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Thun, 21. Juni.

Ein Jahr ist es heute, dass Bertha von Suttner von uns ging. Am Morgen war ich aus Paris zurückgekehrt, wo ich an verheissungsvoller internationaler Verständigungsarbeit teilgenommen und Vorbesprechungen über unsern Wiener Friedenskongress gepflegt hatte. Angekommen hörte ich von der Verschlimmerung im Zustand der Baronin. Vor elf Uhr war ich in ihrer Wohnung, um von dem Arzt zu hören, dass die grosse Frau in Agonie liege. Noch einen Blick konnte ich auf sie richten. Sie lag friedlich schlafend da: Einige Minuten später wurde der letzte Herzschlag festgestellt. —

— Nun ist ein Jahr darüber hinweggegangen. Und was für ein Jahr! — ln den «Blättern f. zw. O.» habe ich diesem Gedenktag einen Artikel gewidmet.

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Der Präsident des preussischen Herrenhauses hielt am 19. zum Schluss der Session eine Rede, an der mir eine Stelle besonders auffällt. Sie lautet:
«Man sagt vielfach, wir müssten einen Frieden erlangen, der uns sichert gegen die Wiederkehr solcher Angriffe. Nach meiner Überzeugung gibt es einen solchen Frieden nicht. Je grösser wir aus dem Kampfe hervorgehen, desto mehr wird das Bestreben der Gegner sein, uns durch seine Koalitionen wieder zu entreissen, was wir erlangt haben. Unsre Sicherheit besteht daher nur in der eignen Kraft».

Das ist die folgerichtige Entwicklung des anarchischen Standpunktes bis zur äussersten Spitze. Weiter geht es glücklicherweise nicht. Hier muss die Umkehr erfolgen, der Ausweg gefunden werden durch die pazifistische Lehre. Diese Anschauung bedeutet den Bankrott der anarchischen Denkweise. Gegen eine Weltkoalition nützt unsre «eigne Kraft» nicht mehr. Sie wird uns nie Sicherheit gewähren. Das muss schliesslich der fanatischste Gewaltanhänger einsehen. Es bleibt daher nichts andres übrig als Verständigung, als Untersuchung der Ursache der Koalition, als die Begründung der Sicherheit durch die Association, das heisst durch den Austausch eigner Macht gegen fremde Pflichten. Das Bekenntnis des Herrenhauspräsidenten ist daher von hohem Wert. Wenn selbst dieser Krieg, dieser ungeheuer opferreiche Krieg den gesicherten Frieden nicht bringen kann, so hat das ganze Machtsystem keinen Wert mehr. Es erweist sich als verfehlt und muss vernünftigerweise durch ein andres ersetzt werden.

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