Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 28. Juni.

Der «Rat von Flandern» hat am 20. Juni eine Kundgebung erlassen, die er dem deutschen Generalgouverneur von Belgien übermitteln lies. Der «Rat von Flandern» bekennt:

«In Notwehr hat das deutsche Heer den Boden unseres Landes als Feind betreten, im Lauf des Krieges aber haben die Flamen trotz der Härten, die dieser den Bewohnern des besetzten Gebiets auferlegt, erkannt, dass nicht das Deutsche Reich ihr wahrer Feind ist, sondern die belgische Regierung.»

Der «Rat von Flandern» ist eine deutsche Kriegsschöpfung und entspricht der (nicht nur deutschen) Kriegsmethode, in einem besetzten Land die unzufriedenen Elemente zu unterstützen. Preußen hat nur in den letzten Jahrzehnten und in den letzten Jahren öfter Gelegenheit gehabt als andre Kriegführende, sich auf besetztem Gebiet der unzufriedenen Elemente anzunehmen und sich als ihre Befreier auszuspielen. Man muss sich doch wieder der preußischen Proklamation an die «Einwohner des glorreichen Königreichs Böhmen!» erinnern, die am 10. Juli 1866 in den Straßen Prags angeschlagen wurde. Darin hieß es:

«Sollte unsere gerechte Sache obsiegen, dann dürfte sich vielleicht auch den Böhmen und Mähren der Augenblick darbieten, indem sie ihre nationalen Wünsche gleich den Ungarn verwirklichen können.»

Wenn es nicht unmittelbar darauf zum Waffenstillstand und zum Frieden gekommen wäre, so hätten wir vor 52 Jahren einen «Rat von Böhmen und Mähren» erlebt, der sicherlich die gleichen huldigenden und entschuldigenden Worte für den Eroberer gebraucht hätte.

Die Handlungsweise der Flamen darf aber von den nicht militaristisch denkenden Menschen nicht anders beurteilt werden, wie man in Deutschland in gleicher Lage die Huldigungen eines Rates von Posen an den fremden Eroberer beurteilen würde. Ja, noch viel schärfer. Immerhin erkennt man aus der gerade jetzt erscheinenden Kundgebung, aus der Rede des Grafen Westarp, aus einem, vor einigen Tagen erschienenen Artikel der Kölnischen Zeitung, wohin das deutsche Programm über Belgien hinausläuft. Man verlangt Zweiteilung der Verwaltung bei voller Selbständigkeit der Teile und wirtschaftliche Anlehnung Flanderns an Deutschland. Das heißt Annexion. Und dieser sinnlose Wunsch wird das deutsche Volk noch viel Blut, noch manche Milliarde kosten.

Die seit einigen Tagen durch die Zeitungen gehende Nachricht von der Ermordung des früheren Zaren Nikolaus 11. wird heute bestätigt. Durch den Säbelhieb eines bolschewistischen Soldaten ist der Zar auf dem Transport von Jekaterinenburg nach Perm ermordet worden. Nicht durch das Verdikt eines Revolutionsgerichts ist der einstige Selbstherrscher des Russenreichs zum Tod verurteilt worden. Es war ein Mord, der an ihm begangen wurde. Das erlaubt, diesem tragischen Schicksal gegenüber nunmehr das menschliche Mitgefühl zum Ausdruck zu bringen. Es war eben ein brutaler Mord gegen einen Wehrlosen. Einer unter den Millionen Morden zwar, die die letzten Jahre der Menschheit besudelten, einer mehr nur unter den Hunderttausenden, die im Russenreich seit Monaten begangen wurden, einer mehr nur unter den hunderttausenden von Morden, die unter der 27-jährigen Regierung dieses Herrschers und in seinem Namen in seinem Reich verübt wurden. Aber dennoch ist es eines der tragischen Fälle, die dieser, den Umsturz alles Bestehenden verursachende Weltkrieg bis jetzt ausgelöst hat. Der machtvollste Mensch auf Erden, dem ein Fünftel der Erde untertan war, der als Autokrat über hunderte von Millionen Menschen herrschte, von diesen wie ein Gott verehrt wurde, und dem das größte Heer der Erde gehörte, ist eines elenden und unrühmlichen Todes gestorben, als armseliger, von den Seinen getrennter, von seiner Macht gestürzter, von den Schmeichlern verlassener und von den übrigen Herrschern der Welt getrennter, ohnmächtiger Gefangener revolutionärer Truppen.

Man nannte ihn den «Blutzar». Man nannte ihn auch einmal den «Friedenszar». Es ist sicher, dass er keinen dieser beiden Titel verdient hat. Er war anscheinend ein harmloser, schwachgeistiger Mensch, den seine Umgebung ausgenutzt hat, und in dessen Namen jene Handlungen verübt wurden, die irgend eine Gruppe um ihn, je nachdem es ihr gelang am Hof den Einfluß zu erlangen, durchseben wollte. Wie jeder Verbrecher ist auch der Zar in erster Linie das Produkt seiner Umgebung geworden. Einmal in seiner Regierungszeit hatte ein gütiges Geschick vernünftige Menschen auf ihn Einfluss nehmen lassen. Es war dies vor jetzt bald 20 Jahren, als jenes ewig denkwürdige, das kommende Weltunheil vorausehende, zu seiner Vermeidung die Welt aufrufende Manifest erschien, das die Regierungen der zivilisierten Welt aufforderte, «die Mittel zu suchen, dem Unheil Vorbeugen, das die ganze Welt bedroht» und «den groben Gedanken des Weltfriedens triumphieren zu lassen über alle Elemente des Unfriedens und der Zwietracht». Es war dies jene Kundgebung, die am 28. August 1898 die Welt überraschte, die unter der Bezeichnung des Zarenmanifestes bekannt ist, das die Grundlage jenes Haager Werkes bildete, auf das durch den Weltkrieg erst recht die Hoffnungen der Menschheit für die Zukunft gerichtet sind.

Ein unglücklicher Mensch ist einem tragischen Schicksal erlegen, dem Schicksal des Kriegs. Eine Warnung für alle jene, die den Krieg und seine angeblichen Wohltaten preisen, und immer wieder den Krieg mit dem Sieg verwechseln. Der Krieg bringt aber auch Niederlage. Und kein Volk, kein Fürst besitzt, auch wenn beide über das wohlausgerüstetste Heer verfügen, die dauernde Garantie des Sieges. Der Krieg ist ein Lotteriespiel, dessen Chancen das Risiko nicht lohnt. Zar Nikolaus ist an dem Krieg zugrunde gegangen, wie vor ihm unzählige andre. So möge sein grauenhafter Tod ein warnendes Beispiel für alle Zeiten bilden.

Vor Beginn dieses Weltzusammenbruchs hat Wilhelm 11. in seiner ersten Depesche an den jetzt erschlagenen Zaren vom 28. Juli 1914 diesem die Solidarität in Erinnerung gebracht, die alle Monarchen gegenüber dem Sarajewoer Fürstenmord verbinden müsste.

«Zweifellos wirst Du mit mir darin übereinstimmen, dass wir beide, Du und ich sowohl als alle Souveräne ein gemeinsames Interesse daran haben, darauf zu bestehen, das alle diejenigen, die für den scheußlichen Mord moralisch verantwortlich sind, ihre verdiente Strafe erleiden.»

So heißt es in jener Depesche. Es liegt etwas wie Vorahnung in diesen Worten. Und es bleibt die Hoffnung, dass die Monarchen der heute im Krieg untereinander befindlichen Länder durch diesen neuerlichen Mord an das Interesse aller Souveräne erinnert werden, und erkennen, dass dieses am besten dadurch geschützt wird, das nicht mehr die Völker in ein so furchtbares Gemetzel hineingetrieben werden.

Vielen in den Zentralländern gilt der Zar als der Urheber dieses Weltbrandes, vielen aber als der Schwächling, der von seiner kriegerischen Umgebung in diesen Krieg hineingetrieben wurde. Möglich, dass eine starke Persönlichkeit an jener Stelle die Explosion verhindert hätte. Aber als den eigentlichen Urheber wird die Geschichte den Ermordeten nicht bezeichnen. Die Brandfackel wurde nicht von ihm ins Pulverfass geworfen. Ihm fällt nur die Sünde zu, als der Brand bereits begonnen hatte, nicht die Kraft und nicht die Geistesstärke besessen zu haben, ihm Einhalt zu tun.