Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 1. Februar.

Die heute veröffentlichte Antwort der deutschen Regierung auf Wilsons Botschaft ist tieftraurig. Ohne Ahnung von der Höhe und Grösse der Dinge, um die es sich bei Wilson handelt, ergeht sie sich in kühler Höflichkeit, in einem phrasenhaften Wohlwollen und einer nur zu offenkundigen Hinterhältigkeit. Nein, die Verfasser dieser Note haben weder die Note Wilsons noch sonst das Problem der zwischenstaatlichen Organisation jemals begriffen, haben es niemals ernst genommen. Sie haben geheuchelt! Sie sehen in jenen, die Welt bewegenden Fragen nur ein Mittel, das sich im Sinn der alten Staatskunst diplomatisch verwerten Hesse, um augenblickliche Vorteile daraus zu ziehen.

Es fehlt jede Wärme, jede überzeugende Kraft und deutet nicht einmal an, dass man glaubhaft erscheinen will. Wie könnte man denn sonst die Zustimmung zu jener Kundgebung zu einer Ankündigung des uneingeschränkten Unterseebootkriegs benützen, den man ohnehin noch als einen Dienst «in einem hohem Sinn der Menschheit » bezeichnet. Man scheut sich ja nicht einmal, sich offen über die Botschaft lustig zu machen. So, wenn man «an erster Stelle» begrüsst «das Recht der Selbstbestimmung und Gleichberechtigung aller Nationen» und in Anerkennung dieses Prinzips die Freiheit — ausgerechnet — für Indien und Irland fordert. Zunächst hat die Wilson-Botschaft in keiner Silbe von einer Losreissung von nationalen Teilen aus den heutigen Staaten gesprochen. Sie sprach nur von der Gewährung der Sicherheit des Lebens, des Gottesdienstes, des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens der bisher unterdrückten Nationalitäten. Die Verfasser der deutschen Note haben also die Wilson-Botschaft gar nicht gelesen, wenn sie daraufhin für Indien und Irland die staatliche Unabhängigkeit verlangen. Man muss sich nur fragen, warum sie dann bloss von Indien und Irland und nicht — zumindesten auch von Armenien sprachen, und wundern muss man sich, nicht genug wundern, hier etwas «freudig begrüsst» zu sehen, was man in der Entente-Note an Wilson in ganz Deutschland als die höchste Unverschämtheit bezeichnete. Die Sache ist so befremdend, dass man sie nicht anders erklären kann, denn als eine bewusste Verhöhnung der grossen Idee Wilsons.

Dass man sich für die künftige Vermeidung von Kriegen, wofür man die freudige Mitarbeit (wie inhaltslos höflich ist diese Phrase!) des deutschen Volks zusichert, gerade die «Freiheit der Meere» als den wichtigsten Programmpunkt herausholt, ist bezeichnend. Diese Freiheit der Meere, an die man denkt, soll nämlich künftige Kriege bequemer machen.

Was soll man denn zu den Sentimentalitäten der Note sagen, die es beklagt, dass jeder Tag, den das furchtbare Ringen andauert, neue Verwüstungen, neue Not, neuen Tod bringt, eine Klage, die sich am 920. Tag dieses Mordens sehr eigentümlich ausnimmt, zumal man am 1. Tag von ihr nichts vernommen. Was soll man dazu sagen, wenn man jetzt emphatisch erklärt, «dass die Einverleibung Belgiens niemals in Deutschlands Absicht gelegen habe», wo man doch täglich aus dem Mund führender Politiker von der Regierung unwidersprochen vernehmen kann, was unter dieser Nicht-Einverleibung zu verstehen ist. Und man traut seinen Augen nicht, wenn man liest, dass die deutsche Regierung mit Belgien «in guten nachbarlichen Beziehungen zu leben wünscht». Diese Phrase hätte man doch vermeiden müssen. Nach allem was vorgefallen ist, muss doch diese Gebärde, diese Redensart einen Wutschrei vom Nordkap bis zum Südpol entfesseln. Hat man denn gar keinen Sinn mehr für das Mögliche? Man darf doch jetzt, nach dem Einfall, nach der 2 1/2 jährigen ohne Rücksicht ausgeübten Fremdherrschaft, nicht mit der schleimig-süßlichen Redensart von dem Wunsch nach «guten nachbarlichen Beziehungen» kommen.

Dann die Rechtfertigung des Unterseebootkriegs als Mittel, das Ende des Kriegs zu beschleunigen! — Etwa um, an diesem Ende angelangt, ein System zur Verhütung künftiger Kriege zu beginnen, wie es Wilson vorschlägt?

Nein! Diese Note Deutschlands zeigt den Weg zur Hölle. Sie lässt die grauenhafte Leere erkennen, die Hoffnungslosigkeit. Von dieser Regierung wird niemals der Friede, niemals die Ordnung der Welt zu erwarten sein.