Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 9. Mai.

Das hat der Sadismus der Versailler Friedensbedingungen bereits bewirkt: Die Front in Deutschland ist geschlossen. Von den Konservativen bis zu den Unabhängigen nur entrüstete Ablehnung.

Es tritt jetzt das ein, was im August 1914 die verbrecherischen Fabrikanten des Kriegs nur vorlogen. Der Vernichtungswille einer Koalition gegen Deutschland. Aber jetzt ist das Volk müde, schwach, arm, niedergebrochen, verhungert.

Was wird geschehen?

Niemals wird dieser Vertrag den Frieden bringen, wenn er überhaupt jemals Vertrag werden sollte. Es ist unmöglich, dass siebzig Millionen mit der Geschichte und der Überlieferung des deutschen Volkes, mit diesen Leistungen in Kunst und Wissenschaft wie ein aufrührerischer Negerstamm behandelt werden können. Das heißt die Auflehnung ständig machen, die Unruhe verewigen, Europa und die Welt an schleichender Krankheit zugrunde gehen lassen.

Gewiss: Rache ist süß, aber dumm, biltzdumm, lebensgefährlich ist es, von diesem verführerischen Gefühl geleitet, die Zukunft zimmern zu wollen. Gewiss: die Verbrechen, die die deutschen Machthaber des alten Regimes begangen, sind unerhört und der Frevel selbst: aber deswegen kann man doch nicht ein ganzes Volk zur Frohn und moralischen Vernichtung verurteilen.

Das hat ja nicht einmal der preußische Militarismus in Brest-Litowsk und Bukarest versucht, was hier in Versailles unternommen wird. Und in Gegenwart Wilsons unternommen wird! Das ist für uns das Schmerzhafte. Wieso ist Wilson geblieben? Warum hat der Mann, der klar erkannt hat, was der Menschheit Not tut, nicht darauf verzichtet, Mitglied dieses Tribunals zu sein, das das gerade Gegenteil dessen zum Vertrag verdichten will, was er vorher als dessen Grundlinien aufgestellt hat.

Hallo! Hallo! Wo seid ihr Pazifisten Frankreichs, die ihr mit uns für den Frieden durch das Recht gestritten habt, die ihr das Jusqu’aubout verkündet, jenes «Ende», das sich uns jetzt als der Friede durch Gewalt zeigt. Wo seid ihr? Wir haben gegen den Gewaltfrieden bei uns angekämpft. Wir haben offen und ehrlich gegen alle Niedertrachten und Dummheiten unsrer Militärs protestiert, haben die Auslösung des Krieges, den Einfall in Belgien, die Greuel der Kriegführung, die Friedensschlüsse in Brest und Bukarest, den Quadratkilometer-wahn als Verbrechen bekämpft und haben uns verfolgen, einsperren, expatriieren lassen? Französische Pazifisten, wo seid ihr jetzt?

Wir verlangen nicht, dass die so arg zugerichtete Welt Deutschland einen Verzeihungsfrieden gewährt; wenn auch das Volk in seiner Mehrheit unschuldig ist an den Sünden seiner Verführer, es weiß, dass es für die Handlungen jener, die es geduldet, dulden musste, aufzukommen hat; weiß, dass es wieder gutmachen, dass es entschädigen, dass es Garantien für die Zukunft bieten muss; aber es darf verlangen, von der Gemeinschaft der Völker, mit denen es gelebt, die mit ihm gelebt, die weiter mit ihm Zusammenleben müssen, nicht geschändet, nicht in Ketten gelegt, nicht an Händen und Fützen amputiert zu werden. Ein Individuum; das verbrecherisch gehandelt, kann dafür bestraft werden auch für den Verbrecher lässt die heutige Kriminologie die mildernden Umslände des Milieus gelten), ein Volk darf nicht in seiner Gesamtheit bestraft werden, am wenigsten dann, wenn es sich befreit hat von den Schuldigen und eben anfängt, sich von den Sünden seiner Verführer zu läutern.