Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

31. Mai (Lugano) 1915.

Die Rede des Reichskanzlers vom 28. Mai über den «Treubruch Italiens» ist sicher ehrlich gemeint. Aber das ist das Unglück, dass diese Klage tieferen Eindruck machen würde, wenn Deutschland den Fehler in Belgien nicht begangen hätte. Ich sage Fehler, nicht Verbrechen. Es war vielleicht kein Verbrechen, aber mehr als dies: ein Fehler. Denn die Welt draussen verwirft natürlich die Rechtfertigung der deutschen Regierung und sieht nur die Tat. Das kann man ihr nicht verbieten. Und die Auffassung, die sie sich darüber bildet, ist ein Imponderabile, das Kräfte auslöst, die für Deutschland schädlich sind. Italien fühlt sich durch den Bruch des belgischen Neutralitätsvertrages zum Bruch des Dreibundvertrags berechtigt, ja verpflichtet. Ausrede? — Gewiss! Es war aber doch ein Fehler, solche Ausrede möglich zu machen. Der Kanzler weist auf Macchiavell hin; Italien auf Treitschke und Bernhardi. Wir sagen: die Treitschke und Bernhardi haben keine Bedeutung gehabt für die deutsche Politik. — Man hat es aber nicht verstanden, diesen Eindruck im Ausland zu erwecken. Das Gegenteil gilt für ausgemacht! — «Fürst Bülow», sagt der Reichskanzler, «hat die grosse Summe seines politischen Geschicks, seine genaueste Kenntnis der italienischen Zustände, seine Persönlichkeit und seinen Namen in unermüdlicher Arbeit für eine Verständigung eingesetzt». War das nicht zu spät?

War es nicht viel eher an der Zeit, diese Verständigung anzubahnen, als wir Pazifisten daran gingen im Jahre 1906, 1908 am Londoner Friedenskongress, und später, und ohne jede Unterstützung seitens unsrer Regierung blieben, während die notorischen Hetzer gegen Italien in der Öffentlichkeit das grosse Wort führten? Etwas mehr Nachdruck für die Friedensbewegung seitens unsrer Regierungen hätte die Furcht vor den Treitschkes und Bernhardis, vor den Keims und Lieberts, den Chlumetzkys und Chiaris eingedämmt, und wäre in den Stunden der Krise dem deutschen Volk zugute gekommen.

Der Reichskanzler sagt im Hinblick auf Italien: «War auch ... dieser Krieg notwendig? Ist er nicht vielmehr sinnlos? Niemand bedrohte Italien ...» Hätte er doch vor zehn Monaten im Hinblick auf Deutschland nur auch so gedacht! Niemand bedrohte Deutschland! Auch dieser Krieg ist sinnlos, und der italienische Krieg nur eine Folge dieser Sinnlosigkeit! Das italienische Grünbuch bezeichnet er als «ein Dokument, das das schlechte Gewissen mit hohlen Phrasen verbirgt». Sehr richtig! — Aber — wer lacht da? —