Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 27. Oktober.

Wie sich die Ereignisse jagen. Von Stunde zu Stunde Nachrichten von weltgeschichtlicher Bedeutung. Wir stehen mitten drin in Geschehnissen und werden uns gar nicht klar darüber, dass wir einer weltgeschichtlichen Wandlung beiwohnen, die an Bedeutung die französische Revolution, den Zusammenbruch Napoleons übertrifft. Der Sturz der preußisch-militärischen Macht bedeutet tatsächlich eine Weltenwende.

Heute ist Ludendorff — auf seinen Wunsch natürlich — zur Disposition gestellt worden. Der Mann, der des Deutschen Reiches Geschichte unter dem Aushängeschild verschiedener Kanzler über vier Jahre geleitet, der noch vor wenigen Monaten glaubte, sein System zum Triumph führen zu können, der zum Heiligen wurde, auf den das deutsche Volk vertraute, ist gestürzt. Einer der alten Götzen liegt zertrümmert am Boden.

Wird es bei diesem bleiben? Das Verlangen nach dem Rücktritt des Kaisers wird jetzt in der deutschen Presse, im Reichstag, ganz unverblümt und offen gefordert. Und nicht nur bei den Sozialdemokraten. Man sieht deutlich, dass das deutsche Volk in seiner überwiegenden Mehrheit den Rücktritt will. Schon ist es zu spät, um es dem Kaiser noch als Größe auslegen zu können. Schon ist es vom Feind gefordert worden und muss jetzt als demütige Erfüllung eines Gebots gedeutet werden. Aber es kann noch schlimmer werden. Wenn die Umgebung des Kaisers ihn nicht bald, nicht in den nächsten Tagen veranlassen kann, auf den Thron zu verzichten, kann unter ungeheurer Zerrüttung der Rücktritt durch innern Zwang erfolgen. Der Weg muss frei werden für das deutsche Volk. Es handelt sich nicht bloß um den Friedensschluss, sondern für Millionen Auslandsdeutsche, für Millionen Handelstreibende in Deutschland darum, den Kredit für ihre Nationalität wieder zu gewinnen. Das deutsche Volk muss sich loslösen von allen jenen, die an der Wiege dieses Weltunheils gestanden, und die die Verantwortung für die Grauen dieses Kriegs haben. Es muss einen weithin sichtbaren Unterschied errichten zwischen jenen und sich. Dann, nur dann kann es seine Zukunft finden.