Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 28. Januar.

Jetzt, nachdem die ersten Zeitungsstimmen verstummt sind, tritt erst die Wirkung der Wilson-Botschaft hervor. Man merkt doch an dem Umfang, in dem die ganze Welt sich mit ihr beschäftigt, welch grossen Eindruck sie gemacht hat. Die Diskussion kann einfach nicht zur Ruhe kommen.

Immerhin ist es ein erfreuliches Zeichen, dass die öffentliche Diskussion in allen Ländern, trotz der immer deutlicher hervortretenden Vorbereitungen für den grossen Frühjahrsmord, den grössten, den die Menschheit vielleicht je erlebte, erfüllt ist von den Vorbereitungen des Friedens und der künftigen pazifistischen Gestaltung der Welt. Das ist unstreitig des Präsidenten Wilsons Verdienst. Ist das nicht ein erneuter Beweis für den engen Zusammenhang der Welt, dass der ernste Friedenswille eines erleuchteten Staatsmanns in einem andern Weltteil eine im grossen Krieg befindliche Gruppe von vierzehn Staaten so mächtig zu beeinflussen vermag? Wir haben immer gesagt, Europa brauche einen Bismarck, d. h. einen Staatsmann, der Klugheit und Macht ebenso für das zerrissene Europa einzusetzen vermöchte wie der grosse Märker es für Deutschland getan hat. Nun erscheint uns, aller Voraussicht nach, dieser europäische Bismarck aus Amerika.

Und trotz all dieser Hoffnungen auf den endlichen Sieg der Vernunft, soll dieses Frühjahrsmorden vor sich gehen? Was hat die Menschheit gewonnen, wenn sie die Neuordnung der Dinge, die jetzt schon möglich ist, erst durchführt, nachdem noch eine halbe Million lebensfähiger Männer den gewaltsamen Tod erleidet? Es kann doch nicht mehr geändert werden dadurch, als höchstens die Befriedigung einiger Militärs. Soll es wirklich nur daran liegen wie es der Reichstagsabgeordnete Scheidemann dieser Tage einem amerikanischen Interviewer erklärt hat, der ihn befragte, warum der Krieg nicht früher aufhöre, womit doch der Welt der Verlust weiterer Hunderttausender von Menschenleben erspart werden könnte. Er antwortete darauf:

«Das ist ein Problem der Führerschaft. Sie dürfen nicht vergessen, dass die grosse militärische Kampagne von 1917 bereits unterwegs ist. Alle Länder haben ihre Generäle, und sie möchten ihre trefflich entworfenen Pläne nicht gestört sehen.»

Ist das ein Grund? Diese «trefflich entworfenen Pläne» stören die nicht minder trefflichen der Pazifisten. Entweder sie bringen einer Gruppe Vorteile und stören das Programm «Friede ohne Sieger», oder sie bieten, wie es am wahrscheinlichsten ist, keine Vorteile und vergeuden Menschenleben, vertiefen den Hass und das Misstraün, erschweren die Zukunft. Wenn die Menschheit noch nicht ganz in Marasmus verfallen ist, müsste sie den Krieg vor jenem graünhaften Frühjahrsversuch beendigen.

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Professor Zorn in Bonn fühlt in letzter Zeit das Bedürfnis, die Rolle Deutschlands auf den Haager Konferenzen den von der Entente und von neutraler Seite gerichteten Angriffen gegenüber in zahlreichen Zeitungsartikeln zu beschönigen. Sein Vorgehen ist wenig glücklich und reizt zum Widerspruch. Wenn dieser bisher nicht erfolgt ist, so hat der Bonner Gelehrte dies nur dem Anstandsgefühl der Pazifisten zu danken, die in dieser ernsten Zeit den Staatsmännern der Zentralmächte durch eine Widerlegung der Zorn’schen Ausführungen nicht in den Rücken fallen wollen. Gerade heute kommt mir ein solcher Aufsatz Professor Zorn’s aus dem «Tag» (24. Januar) zur Hand, worin er den in der bekannten Antwortnote der Entente enthaltenen Satz «Im Haag war es der deutsche Delegierte, der sich geweigert hatte, jedem Vorschlag einer Abrüstung zuzustimmen», unter zu peinlicher Hervorhebung des äußerlich Formalen als ein «lügenhaftes Manöver», als eine «bewusste Unwahrheit» bezeichnet. Professor Zorn tut so, als ob die Frage des Rüstungsproblems nur durch das Protokoll der betreffenden Kommission zum Ausdruck kommt. Er vergisst, den Lesern mitzuteilen, dass es auch eine zweite Haager Konferenz gegeben hat, auf der das Rüstungsproblem zwar nicht erörtert wurde, und warum es nicht erörtert werden durfte.

Professor Zorn täte der deutschen Sache einen grossen Dienst, wenn er jetzt schweigen würde. Nach dem Krieg wird die Möglichkeit gegeben sein, sich mit seinen rosafarbigen Ansichten ausführlich auseinanderzusetzen.