Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 2. März.

Die Berichte aus ganz Deutschland, namentlich aus München, sind traurig. Die soziale — was soll ich sagen? Umwälzung oder Zersetzung — schreitet rapid fort. Wenn’s nur Umwälzung wäre! Aber ist es nicht Zersetzung? Auf der einen Seite droht die Vernichtung durch den Bolschewismus, auf der anderen die Gefahr der Reaktion. Das Üble ist dabei, dass das Heilmittel gegen das Eine das Andere fordert. Will man den Bolschewismus durch starke Militärmacht bekämpfen, stärkt man die Reaktion, will man die Gefahr der Reaktion durch Übertreibung des Freiheitsideals eindämmen, stärkt man den Bolschewismus. Das törichte Verhalten der Sieger macht das Dilemma noch fürchterlicher. — Man weiß in der Tat nicht, nach welcher Richtung man die Entwicklung fördern soll. Wie es auch käme, wäre es nicht nur für das deutsche Volk, sondern auch für die ganze Menschheit gefährlich. Was brächte ein Sieg der Reaktion, eine Rückkehr der Monarchie, und wäre es selbst eine demokratische? Doch nur einen Kristallisationspunkt für die Rachegefühle und einen Antrieb für neue Rüstungen und Kriegsdrohungen und — über kurz oder lang doch wieder den Krieg. Was hätte die Menschheit, was hätten die heutigen Sieger davon? — Und was brächte der Sieg des Bolschewismus den Siegern? Wie der scharf denkende Dr. Ernst Bloch mir heute sagte: Die Linie Berlin—Bagdad würde ersetzt werden durch die viel gefährlichere Linie Köln—Wladiwostock. Ein bolschewistischer Koloss vom Stillen Ozean bis zum Rhein würde die ganze Welt bedrohen, und er würde auch bei den durch den langen Krieg zermürbten Völkern der Sieger nicht auf zu hartem Widerstand stoßen. Dann wäre aber der Weltkrieg nur das Lever du rideau der zu erwartenden Katastrophe gewesen. Dann folgen Jahre, Jahrzehnte der blutigsten Umwälzung, der steten Unrast und Schrecken, aus denen sich vielleicht nach einer Generation wieder einmal eine Weltordnung erheben wird? Eine bessere? Vielleicht; aber für unsere Zeitgenossen des Übergangs wird es den Raub des Lesenswertes bedeuten.

Und Schuld daran wird doch nur die grässliche Krankheit des Militarismus sein, die die Staatsmänner der Entente mit der Niederwerfung Preußens zu überwinden hoffen, nicht ahnend, dass die Krankheit dann ihren Sitz innerhalb ihrer eigenen Grenzen nehmen wird. Es ist das Zirkusstückchen mit dem Clown, der ein klebriges Stück Papier nicht los werden kann; wenn er es von der einen Hand ablöst, bleibt’s an der anderen hängen. Würde in den Ententestaaten kluge, klarsehende Staatsmännerkunst über die Siegespsychose der Militärs und ihrer Anhänger obsiegen, dann würden sie einen raschen und vernünftigen Frieden herbeiführen, der die junge deutsche Demokratie stärkt und ihr die Kraft gibt, die aus der Verzweiflung gebornen Tendenzen zu überwinden, ohne der Reaktion in die Hände zu fallen. Der Sadismus der Sieger mübie überwunden und mit dem Frieden auch ein wirklicher Ausgleich mit den Besiegten herbeigeführt werden. Es müsste vor allem der wirkliche Völkerbund errichtet werden, der auf Vertrauen und Verständigung beruht, keine Waffenbrüderschaft der Sieger gegen die Besiegten, keine Mitteleuropa-Ideen ins Westliche übertragen. Es müsste der Weg zu dem amerikanischen Wilson zurückgefunden werden, der weit ab führt von dem Wilson, der seinen Tag von Paris erlebt hat. Der ganze Weltkrieg ist von der Menschheit vergebens erlitten worden, wenn nicht im letzten Augenblick die Sieger erleuchtet werden und Klarheit darüber gewinnen, dass die Auslebung der Rache auch ihnen nur Unheil bringen muss.