Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Thun, 22. Juni.

Nach dem «Berliner Tageblatt» vom 20. Juni ist von einem Berliner Schwurgericht eine Näherin, die sich des Verbrechens gegen § 218 des Strafgesetzbuchs schuldig gemacht hat, zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Der Staatsanwalt hatte nur ein Jahr beantragt, das Gericht verdoppelte aber die Strafe, da «das Treiben derartiger ,weiser Frauen’ vom Standpunkt der notwendigen Erhaltung des Volkswohls und der Volksgesundheit als ein äusserst gemeingefährliches zu bezeichnen sei». Das ist eine wichtige Betonung der Grundsätze der Menschenökonomie. Wenn hier ein armes Weib ihre Verbrechen gegen das keimende Leben mit zwei Jahren Zuchthaus büssen muss, welche Strafen verdienen jene, die den Tod von hunderttausenden, blühenden Kraftmenschen verschuldet haben? Welche Strafe gebührt dem Kriegshetzer, der vom «Standpunkt der notwendigen Erhaltung des Volkswohls und der Volksgesundheit» doch sicher unendlich «gemeingefährlicher» ist als die arme Näherin.

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Der Engländer G. L. Dickinson vom Kingscollege in Cambridge ist einer der hervorragendsten Vertreter der Norman-Angell-Schule. Sein Aufsatz «Der Krieg und die Befreiung von ihm» (zuerst im «Atlantic Monthly» erschienen, deutsch in «Neue Wege» März-April, Basel), den ich gestern las, enthält prachtvolle Äusserungen gegen den Krieg und zeugt von der objektiven Auffassung des Verfassers, der durchaus keinen Hass gegen Deutschland kennt. Ich möchte folgende Stelle hier festhalten:

«Die deutschen Imperialisten haben es offenbar für der Mühe wert gehalten, Krieg mit uns zu führen, um Kolonien zu erwerben. Haben sie je die Kriegskosten gegen die voraussichtlichen Handelsvorteile abgewogen? Haben sie je versucht, die ökonomische Bilanz zu ziehen? Haben die Regierenden irgendwo so etwas versucht? Und ist die geringste Wahrscheinlichkeit vorhanden, dass, wenn die Bilanz gezogen würde, sie zu Gunsten des Kriegs ausfiele? Das ist jedoch der am wenigsten in Betracht fallende Umstand. Was wirtschaftlich im Krieg gewonnen oder verloren werden kann — ich glaube, alle sachverständigen Beurteiler sind darin einig, dass der Verlust grösser sei als der Gewinn — ist nur eine und zwar die unwichtigste Erwägung. ln den Krieg ziehen, um Reichtümer zu erwerben, sogar wenn man sie erwerben könnte, ist dasselbe wie einen Menschen ermorden, um seine Taschen zu leeren. Der Regierungsdenkweise mit ihrem Zynismus, ihrer Blindheit, ihrem Mangel an Berührung mit den Wirklichkeiten des Lebens mag solch ein Vorgehen richtig und normal erscheinen. Aber gehen Sie zum einfachen Mann und zur einfachen Frau und stellen Sie ihnen in Friedenszeiten die Frage: ,Hieltet ihr es für recht, zehntausende von Leben zu opfern und der Welt eine Erbschaft des Hasses zu hinterlassen, damit ihr und eure Nachkommen Reichtümer erwerben könnt?’ Was für eine Antwort würden Sie erhalten? Gehen Sie in Kriegszeiten zu ihnen und sagen Sie der Mutter, die um ihren Sohn, der Frau, die um ihren Mann weint, ,Wir verlangen dieses Opfer von dir, damit die Engländer oder Deutschen mehr Geld zu verbrauchen haben’ — was für eine Antwort werden Sie erhalten?’»

Dickinson unterscheidet zwischen den Wünschen der Regierungen und den Wünschen der Völker. Die ersteren haben Europa immer wieder vom «Gesichtspunkt des Staates, statt vom Gesichtspunkt des menschlichen Lebens aus eingeteilt ... Den Wünschen der Völker, den Interessen der Völker, dem Nationalgefühl, das etwas so Wirkliches ist, wie der Staat etwas Unwirkliches, alledem sind sie gleichgiltig gegenübergestanden.»

Über die Ursache des Kriegs urteilt er in folgender Weise. Er schildert den Krieg wie er ist und fährt fort:

«Dann, wenn Entsetzen seine Seele erfüllt, möge er sich fragen: ,Warum dies alles?’ Und er möge sich nicht zufrieden geben mit Antworten wie der ,Einbruch in Belgien’ und ,das Machtverlangen Deutschlands’. Das mögen Gründe gewesen sein, die England zu diesem gegenwärtigen Krieg veranlasst haben; aber sie sind nicht der Grund des Kriegs. Der Krieg brach aus, weil die paar wenigen Männer, die über Polizei und Rüstungen zu befehlen haben, von der Regierungstheorie durchdrungen sind und sie angewendet haben und weil das gewöhnliche Volk, das in diesem Krieg zu hunderttausenden gemordet und vernichtet wird, weder die Kenntnisse noch die Bildung von Herz und Seele, noch die Organisation besass, um diese Männer zu leiten. Das müssen wir ändern und dazu müssen wir vor allen Dingen die Regierungstheorie in Misskredit bringen».

Über den Charakter der Dauerhaftigkeit des künftigen Friedens spricht er sich in folgender Weise aus:

«Vor allem muss der Gedanke an die Vergrösserung einer Nation und Demütigung einer andern Nation abgetan werden. Unser Ziel darf nicht sein, dass diese oder jene Gruppe von Staaten die anderen beherrschen solle, sondern dass keiner in Zukunft irgend einen Wunsch oder eine Ursache habe, zu herrschen. Zu diesem Zwecke müssen wir so wenig Wunden als möglich zurücklassen, so wenig Gefühl von erfahrenem Unrecht als möglich, so wenig Demütigung als möglich. Die unterliegenden Staaten dürfen darum nicht in der Hoffnung, sie zu schwächen oder sie darniederzuhalten, zerstückelt werden. Das bedeutet, um ein Beispiel zu nennen, dass, wenn die Verbündeten gewinnen, die Engländer und Franzosen nicht die deutschen Kolonien nehmen dürfen oder Russland die baltische Küste, den Balkan oder Konstantinopel, und wenn Deutschland gewinnt, es Frankreich oder England oder die neutralen Staaten nicht zerstückeln oder seinem System unterordnen darf. Das ist die erste klare Bedingung des künftigen europäischen Friedens.»

Nur verspricht er sich nicht viel, «wenn der Friede von den gleichen Männern gemacht werden soll, die den Krieg gemacht haben». Er würde dann so geartet sein, «dass es nach einem Vierteljahrhundert wieder einen Krieg im gleichen Riesenmaßstab geben wird». Ihm erscheint ein europäischer Staatenbund nicht als Utopie, sondern als eine «durchaus praktische Sache». Doch ist er, wie auch ich es in meiner Schrift «Europäische Wiederherstellung» ausgedrückt habe, der Ansicht, dass ein solcher Bund nicht sofort nach Beendigung des Kriegs gebildet werden kann, dass die öffentliche Meinung erst vorbereitet werden müsse. Beim Friedensschluss muss jedoch der künftige Bund im Auge behalten werden. Dazu erscheint ihm in erster Linie notwendig,
dass «die Stimmung, die in England anzuwachsen scheint, dass die Engländer Deutschland ,bestrafen’ müssten, indem sie es als politische Macht vernichteten, und die Stimmung, die in Deutschland überhand zu nehmen scheint, dass es die Engländer als die grossen Friedensstörer vernichten müsse — darum müssen alle solche Stimmungen mit aller Entschiedenheit bekämpft werden. Denn auf dieser Grundlage kann kein dauernder Friede geschlossen werden. Der Militarismus muss nicht nur in Deutschland, sondern überall vernichtet werden. Eine Einschränkung der Rüstungen muss allgemein sein, nicht nur den Besiegten von den Siegern auferlegt, die selbst im Sinn haben, die volle Rüstung zu behalten. Die Anschauungen der Völker müssen ein für allemal an Stelle der Anschauungen der Regierungen treten und die Anschauungen der Völker bedeuten nicht ,Herrschaft' und darum auch nicht Krieg, sondern einen Verband von Nationen, die sich alle nach ihrer eigenen Art frei entwickeln können und die alle Zwistigkeiten durch Schiedsgerichte entscheiden lassen».