Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Spiez, 30. August.

Der Rückzug der Deutschen im Westen dauert an. Damit aber die humoristische Verkleidung der Tatsache in den amtlichen und privaten Berichten. Man meldet nicht offen: Der Feind hat Noyon genommen, sondern: «Noyon lag unter schwerstem Feuer der Franzosen. Die Stadt liegt vor unseren Kampflinien.» Man will nicht sagen, wir sind hinter die Stadt gegangen, so sagt man die Stadt liegt vor uns. Unwürdig. Ein Ergebnis dieses Rückzugs macht sich geltend in dem entschiedenen Friedensfeldzug, der jetzt in der deutschen Presse unternommen und gestattet wird. So konnte jetzt wieder Gothein im «Berliner Tageblatt» (28. August) eine offene Sprache führen, wie man sie seit langem nicht mehr gewöhnt war. Er konnte offen gegen den Brester Frieden sprechen und dessen Revision im Weltfriedensvertrag verlangen. Er konnte noch Folgendes sagen:

«Es mag vielleicht heute noch Leute in Deutschland geben, die von einem Siegfrieden mit der uns feindlichen Welt gegenüber träumen; die ihr diktieren wollen, wie künftig die Welt unter Deutschlands Führung sich gestalten soll. Wer ernsthaft und nüchtern die Dinge betrachtet, glaubt an solche Phantastereien ebensowenig wie daran, dass es unseren Feinden gelingen könnte, uns zu besiegen. Kommt es zu keinem Frieden der Verständigung und Versöhnung, so geht das gegenseitige Morden, geht die Zerstörung und Vernichtung unendlicher Kulturwerte, geht die ungeheure Verschuldung und Verarmung Europas noch jahrelang weiter; vernichtet sich Europa unter Beihilfe von Amerika und Japan zu deren Gunsten.»

Auch gegen das Bündnisunwesen und gegen den — erfreulicherweise schon ausgeträumten — Traum von Mitteleuropa durfte er sprechen!

Die Vernunft ist also wieder einmal gestattet im deutschen Reich. Ist die Erlaubnis nur aus strategischen Erwägungen entstanden oder wird sie dauernd gegeben sein?

Haussmann ging in seiner Rede, die er in seinem Wahlkreis gehalten, noch schärfer mit den Siegfriedlern ins Zeug. Er erhob sogar die Anklage gegen den Reichs-kanzler Michaelis, dass er «Zweifel in die Haltung Deutschlands gesät und das Misstrauen gegen uns begünstigt hat».

Ein auffallender Artikel der «Augsburger Post», eines Zentrumblatts, verlangt Freigabe Belgiens, Autonomie für Elsaß-Lothringen, räumt den Engländern ein, dass, ihre Eroberungen in Asien und Afrika unter ganz andern Gesichtswinkeln zu messen sind als europäische Eroberungen Deutschlands. Er betrachtet den Irrtum über den Erfolg des U-Bootkriegs und die Unterschätzung Amerikas als verhängnisvoll.

Es dämmerl also! Traurig, dass es erst der Fortschritte Fochs bedurfte, um in Deutschland die Vernunft zu Worte kommen zu lassen. Das könnte das Erwachen als zu spät erfolgt erscheinen lassen. Vielleicht aber gibt dieser Wandel den besonnenen Elementen in der Entente eine Handhabe, die Verhandlungen über eine neue Weltordnung zu beginnen.