Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 19. Oktober.

Heute vor einem Jahr kamen wir in der Schweiz an. Zuerst nur, um einige Wochen hier zu bleiben, dann einige Monate bis Kriegsende; und nun ist ein Jahr herum. Der Gedanke an das Kriegsende wird immer phantastischer. Je länger der Krieg aber dauert, umso drastischer erweist sich der Bankrott der Kriegsidee. Lange Kriege können sich in keinem Fall mehr lohnen. Nur der Glaube an einen kurzen Putsch, der Vieles ändern könnte, gab den Kriegsanhängern noch Macht. Künftig wird ja doch die Erinnerung an die grossen Opfer, an die Vernichtungen, die Risiken und die lange Dauer dieses Krieges, die Kombinationen mit dem Mittel des Krieges erschweren. Eigentlich ist doch jeder Krieg auf europäischem Boden ein Krieg gegen den Krieg. Der Krieg 1870/71, der gegen den heutigen nur ein Kinderspiel war, hat beinahe ein halbes Jahrhundert die Scheu vor einem Europakrieg wachgehalten. Wie gross wird diese Scheu erst jetzt sein, nach dieser unausdenkbaren Katastrophe. Es ist kaum anzunehmen, dass man es noch einmal dazu kommen lassen wird. Die Erschöpfung wird zu gross geworden, die Opfer werden zu unerträglich sein.

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In der «Hilfe» (Nr. 41) schreibt Gertrud Bäumer:

«Der Streik einiger Sänger des Leipziger Gewandhauschors hat die Frage aufgeworfen, ob man die ,Neunte Sinfonie' während des Krieges aufführen könne: ,Freude schöner Götterfunken’? — ,Seid umschlungen, Millionen, diesen Kuss der ganzen Welt’? Das ist fast eine zu gewaltsame Zumutung! Aber bedeutet in Beethovens Musik dieser Hymnus noch wörtlich das, was seine Worte sagen, die zeitgebundene Zeichen einer Kraft des inneren Sieges, des Triumphes des Lebens über alle Mächte des Todes sind?»

— Also kurz gesagt: Die IX. Sinphonie bringt den Triumph der Artillerie zum Ausdruck. Vielleicht ändert man den Text: «Seid vernichtet, Millionen, diesen Schuss der ganzen Welt». Ich überlasse es feldgrauen Dichtern, den Text weiter zeitgemäss umzugestalten.

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Ich werde auf einen Widerspruch in den offiziellen Darlegungen der «Norddeutschen Allgemeinen Zeitung» aufmerksam gemacht. In der Antwort jenes Blattes auf den bekannten Brief Greys an die Presse, vom 27. August, heisst es wörtlich: «Im übrigen stellen wir fest, dass deutscherseits ein Versuch, den deutschen Einmarsch in Belgien nachträglich mit dem schuldhaften Verhalten der belgischen Regierung zu rechtfertigen niemals gemacht worden ist». In dem Artikel der «Norddeutschen Allgemeinen Zeitung» vom 13. Oktober 1914 über die «Brüsseler Dokumente» steht jedoch folgender Satz: «Die aufgefundenen Schriftstücke bilden einen dokumentarischen Beweis für die, den massgebenden deutschen Stellen lange vor Kriegsausbruch bekannte Tatsache, der belgischen Konnivenz mit den Ententemächten. Sie dienen als eine Rechtfertigung für unser militärisches Vorgehen und als eine Bestätigung der, der deutschen Heeresleitung zugegangenen Informationen über die französischen Absichten».

Der Widerspruch ist klar; immerhin ist es erfreulich, dass in der späteren Veröffentlichung ein Standpunkt aufgegeben wurde, der nicht haltbar war. Die Verletzung der belgischen Neutralität kann man versuchen, zu entschuldigen, wie der Reichskanzler es getan hat, aber sie lässt sich niemals rechtfertigen.

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Während man sich allenthalben der Hoffnung hingibt, der Krieg werde mit den Überbleibseln früherer Kulturperioden endgültig aufräumen und der politischen Freiheit wie der Freiheit des Geistes neue Bahnen öffnen, treten Äusserungen zutage, die diese Hoffnungen stark hinabdrücken. Die heutigen Zeitungen veröffentlichen nachstehendes Telegramm des offiziellen Korr.-Bureau aus Wien vom 18. Oktober:

«Unter der Beteiligung Zehntausender fand am Sonntag eine vom Kardinal Piffl geführte grosse Bittprozession statt, welche den Dank für die bisherigen Erfolge aussprechen und für unsere Waffen den endgültigen Sieg herabflehen sollte. An der imposanten Prozession, die in vollständiger Ordnung verlief, nahmen teil: die Erzherzogin Zita, Maria Josepha, Maria Annunziata, Prinzessin Elisabeth von Liechtenstein, der Präsident des Herrenhauses Graf Windisch-Graetz, Landmarschall von Liechtenstein, der Bürgermeister Weiskirchner und andere. Die Prozession bewegte sich von der Votivkirche durch die Hofburg zur Stefanskirche, wo Erzherzog Karl Franz Joseph den Zug erwartete. Die Mitglieder des Kaiserhauses wohnten sodann der Andacht bei, die Kardinal Piffl im Dom abhielt. Die eindrucksvolle Feier schloss mit der Absingung einer Strophe der Volkshymne, welche von den Anwesenden begeistert gesungen wurde. Die Bevölkerung bereitete dem Tronfolger und den übrigen Mitgliedern des Kaiserhauses beim Verlassen des Domes rauschende Ovationen».

Die Kirche dankt für die Erfolge der Waffen, die Waffenfabrikanten erhalten Orden, und das arme Volk, dessen Söhne zu hunderttausenden hingestreckt wurden, bereitet «rauschende Ovationen». — Sapienti sat!