Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Montreux, 12. Mai.

Der Deutsche Reichstag hat mit 229 gegen 211 Stimmen die Aussetzung des Strafverfahrens und die Aufhebung der Haft des am 1. Mai verhafteten Abgeordneten Liebknecht abgelehnt. Der Deutsche Reichstag hat damit zu erkennen gegeben, dass er Parteien kennt. Liebknecht mag in der Art seiner Betätigung Viele abstossen, sein Mut muss anerkannt und seine Ehrlichkeit darf nicht bezweifelt werden. Er ist Gegner des Kriegs und dieses Kriegs. Seine Äusserungen entsprechen seiner Überzeugung. Wenn der Reichstag diese Äusserung durch den Mund des Berichterstatters (Exzellenz Payer) als «eine ernste Gefahr für das Vaterland» bezeichnet, so kann man dieser Begründung nicht folgen. Ist die Sache des Vaterlandes so schwach? — Die Friedensforderer in andern Parlamenten werden in Deutschland mit Beifall und Bewunderung begrüsst. Der Friedensforderer des Reichstags aber wird als ein Mann bezeichnet, «an dessen Mitarbeit das Haus kein Interesse» habe. Kein Interesse!

Es gibt Leute, die das Vaterland mehr schädigen als Liebknecht, Leute, deren Gebahren uns in diesen Krieg hineingetrieben haben. Die alldeutschen Schreier laufen noch immer frei herum, Liebknecht ist in das Verliess eines Gefängnisses verschwunden.