Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

20. Mai (Lugano) 1915.

Wieder ein kritischer Tag des europäischen Weltkriegs. In Rom tritt heute die Kammer zusammen. Sie soll den Krieg beschliessen oder billigen. Es ist kaum mehr anzunehmen, dass es anders wird. Die Stimmung in Italien grenzt an Wahnsinn. Und Wahnsinn ist jener Zustand der öffentlichen Meinung, in dem sie mit Begeisterung und Elan einem Krieg zutreibt. Nur soll man sich nicht damit begnügen, dies allein den Italienern übel zu nehmen. Sie zeigen heute die gleiche Physiognomie, die Deutschland und Österreich-Ungarn vor zehn Monaten gezeigt haben. Das Schlimme ist, dass die sicherlich vorhandenen Vernünftigen in solchen Augenblicken gar nicht mehr zu Wort kommen.

Wenn Italien nun in den Krieg gegen Deutschland und Österreich eintritt, so wird dadurch Treue und Glauben im internationalen Verkehr mehr erschüttert und geschädigt als durch alle bisherigen Vertragsverletzungen. Ein Staat, der dreissig Jahre lang Teilnehmer eines Bündnisvertrages war, der die Kontrahenten im Kriegsfall schützen sollte, und der in dreissig Jahren alle Vorteile dieses Bündnisses genoss, dann aber in der kritischen Stunde diesen Vertrag nicht nur nicht erfüllt, ja nicht einmal neutral bleibt — auch unter dem Angebot von hoher Bezahlung nicht — sondern sich gegen seine früheren Verbündete wendet und sich einer gegen diese gerichteten erdrückenden Koalition anschliesst, begeht eine Perfidie, wie sie die Weltgeschichte noch nicht gekannt hat.

Das System der Kriegsallianzen geht hier schmählich zugrunde.

Man kann zwar sagen, das Verhalten Italiens sei der Fluch der bösen Tat. Ohne Belgien gäbe es auch hier keinen Vertragsbruch. Das ist aber eine schwache Entschuldigung für Italien. Es gibt jedoch zu denken über den Gang und die Haltung der bisherigen Politik der Dreibundstaaten. Hat nicht Österreich im Rahmen des Bundes dauernd eine kriegerische Politik gegen Italien getrieben. Die Heerstrassen und die Sperrforts in Tirol, die Seerüstungen, waren sie nicht offen gegen Italien gerichtet? Während die Minister des Äussern beider Länder sich an verschiedenen Orten trafen und die Festigkeit des Bündnisses versicherten, entwarfen die Marinekommandanten und Generalstabschefs Kriegspläne gegen die verbündete Macht. Die Verweigerung der italienischen Universität war auch einer der diplomatischen Fehler, die sich jetzt fühlbar machen. Der Strassenpöbel, der jetzt auf den Strassen Roms nach Krieg schreit, als ob ihm ein solcher das höchste Glück verhiesse, ist in Österreich zu jener ausschlaggebenden Macht erzogen worden, die ihm heute unseliger Weise innewohnt.

Und lag nicht der grösste Fehler darin, diesen Krieg überhaupt zu entfesseln? Wie recht hatte Bismarck, wenn er sagte, man wisse zwar immer, wie ein Krieg anfängt, nie aber, wie er endigt. Deshalb warnte er vor Präventivkriegen.

Man bedenke doch, in welche Lage Österreich-Ungarn durch den Krieg versetzt wurde. Sein Ansehen, seine Existenz waren angeblich durch die in Serbien genährten Tendenzen gefährdet. Nun ist es gezwungen worden, Teile seines Gebietes freiwillig anzubieten, um Italien vom Krieg fernzuhalten. Das ist ein bittres Schicksal. Glücklich und zufrieden hätten die Völker Österreich-Ungarns leben können, wenn die Regierung die einzelnen Nationalitäten so gestellt hätte, dass sie sich im Reichsverband wohl gefühlt hätten. Ganz Europa lebte in Frieden, wenn diese unselige Tat der Annexion das den Frieden sichernde Gebäude des Berliner Vertrags nicht zerstört hätte.

Vorgestern wiesen der Reichskanzler und Graf Tisza auf die italienische Angelegenheit hin. Die Konzessionen Österreichs wurden hier zum ersten Mal mitgeteilt. Sie bedeuten schon an sich eine Niederlage für die Zentralmächte. Das vom Reichskanzler angegebene Motiv «um das Bundesverhältnis zu stärken» wäre besser nicht hervorgehoben worden. Es ist ein Akt der ärgsten Erpressung, dem man zum Opfer fiel; man soll daher nicht so tun, als ob man aus Liebe und eignem Interesse jene Konzession gemacht habe. Und zu diesen furchtbaren Konzessionen hat Deutschland seinen Bundesgenossen veranlassen können, während es vor dem Weltkrieg ihm die von Grey vorgeschlagene Viererkonferenz aus Rücksicht auf Österreichs Grossmachtstellung «nicht zumuten» konnte, während es angab, die friedliche Haltung bis zur Grenze der Bundes-Tragfähigkeit unterstützt zu haben, und dies ohne Erfolg. — Die Weltgeschichte ist das Weltgericht!