Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

19. Januar 1915.

Um noch einmal auf die Wiener Feuilletonisten zurückzukommen. «Ignotus» im «Neuen Wiener Tagblatt» philosophiert über den Krieg (12. Januar «Kriegsmomente»). Er nimmt ihn in Schutz gegen die Pazifisten. «Man hatte ihn (den Krieg) in die Acht getan. Es war schon beinahe eine Mode, Pazifist zu sein. Kein gutes Haar liess man am Krieg, er sei das schrecklichste, das roheste, das verbrecherischeste Überbleibsel des Mittelalters, so deklamierten empfindsame Seelen und wollten unsere heranwachsende Jugend das Gruseln vor ihm lehren.» So Ignotus. Dieser Satz ist ein Dokument dafür, wie die Friedensbewegung immer noch von der Gefühlsseite aufgefasst wird. Sie stellen sich unter Pazifisten immer nur «empfindsame Seelen» vor und schreiben uns nur einen Kampf gegen das Schreckliche des Krieges zu. Dass er dumm, überflüssig, ein untaugliches Mittel ist, und wir mit dem Rechenstift gegen ihn kämpfen, geht in diese Feuilletonisten-Seelen nicht hinein.

Und Ignotus bemüht sich darzulegen, wie sehr wir dem Krieg Unrecht taten. Er sei ein Reiniger, ein Befruchter. Die Idealisten wie die Gelehrten werden nachher reiche Arbeit bekommen. «Das reichste Geschenk aber, das je ein Krieg den Dichtern und Künstlern gebracht, wird dieser ihnen darbieten. Sie werden jahrzehntelang von ihm zehren können.» — Nun wissen wir es, wozu er gut war. Millionen Tote, Millionen Krüppel, Verarmte, Verzweifelte, Vertriebene, Milliarden vernichteter Werte als Geschenk für stoffarme Dichter und Künstler.

Ist Derartiges zulässig? Sind derartige Argumente wert, im Druck zu erscheinen? Der fürchterlichste Zusammenstoss, den die Welt gesehen, als Anreger für Dichter und Künstler gepriesen?!

Mir ist, als ob nach einem Erdbeben, das tausende Menschenleben vernichtet und Städte zerstört, ein Fabrikant von Hosenknöpfen das Unheil deshalb preisen würde, weil infolge der allgemeinen Zerstörung auch Millionen Hosenknöpfe vernichtet wurden, die neu angeschafft werden müssen. Auf Jahre hinaus Befruchtung der Hosenknopfindustrie!

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Erdbeben? — Ich habe ganz vergessen hier zu notieren, dass sich die Natur abermals einen Witz geleistet hat durch das katastrophale Erdbeben von Süditalien. 30,000 Tote, 50,000 Verwundete, gegen 40 Städte zerstört. Der Schaden in die Hunderte von Millionen gehend. Ich habe es vergessen. Die andern beachtens kaum. Die Kämpfe an der Yser oder an der Weichsel haben Gigantischeres geleistet. 30,000 Tote? Bah! Stümperhafte Natur! Wir arbeiten im Grossbetrieb.

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Gestern den Besuch eines englischen Arztes erhalten, der seit zwanzig Jahren in Paris lebt. Ein Freund Norman Angells. Er kam hierher, um sich mit Deutschen über die Möglichkeiten eines Friedensschlusses zu unterhalten. Ich legte ihm meine Skepsis dar. Immerhin war es mir erfreulich, zu sehen, wie ehrlich und offen dieser Engländer, der als Arzt in einem Dünkirchner Lazarett den Krieg in seiner furchtbarsten Gestalt gesehen, den Krieg hasst, Deutschland achtet und seine eigene Regierung nicht frei spricht von dem Verbrechen.