Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 20. Januar.

Etatsdebatte im preussischen Abgeordnetenhaus, Kampf um das Wahlrecht in Preussen und Friedensbetrachtungen. Die alten Töne und der alte Geist.

Der konservative Führer Dr. v. Heydebrand findet das gegenwärtige preussische Wahlrecht, das sechs Siebentel der Wähler entrechtet, «geradezu ideal». Er versteigt sich zu einer, fast talmudisch klingenden Bemerkung: «Die Thronrede stellt dem preussischen Volk und den preussischen Einrichtungen ein geradezu glänzendes Zeugnis aus». Wozu dann das Wahlrecht ändern, meint er, wenn alles so gut ist. Dr. v. Heydebrand sagt, die Regierung widerspräche sich da selbst. «Wär der Gedank’ nicht so verflucht gescheit, man wär versucht, ihn höllisch dumm zu nennen.» Die Regierung war mit dem Volk zufrieden. Das Volk aber nicht mit der Regierung. Deshalb verlangt es eben sein Wahlrecht. Das sieht der Junker nicht ein. — Der Minister des Innern, v. Loebell, sprach viel über die Wahlreform und von der Entschlossenheit der Regierung, sie durchzuführen. Andeutungen über ihren Umfang unterliess er. Aber die Tendenz, zu einem Kompromiss zu gelangen, statt zu einer vollen Erfüllung der demokratischen Forderungen, geht doch zu sehr aus den Worten hervor, mit denen der Minister die Hoffnung ausdrückt, dass die Regierung «alle Parteien an ihrer Seite finden wird, wenn sie dem Abgeordnetenhaus für seine Beratungen die gesetzgeberische Unterlage unterbreitet». Alle Parteien? Wenn der Führer der gegenwärtig grössten Partei die gegenwärtige Wahlreform für «geradezu ideal» erachtet! Wie wird der Mittelweg aussehen müssen, wenn er auch dieser Partei genehm sein soll?

Den Fortschrittsparteien sucht der Minister ihre Argumente zu schwächen. Das Wahlrecht soll lediglich geändert werden, weil «die umstrittene Frage», den «kostbaren Gewinn der Kriegszeit», die «Einmütigkeit der Parteien» stören könnte. Das Wahlrecht soll also nicht geändert werden, weil es ein Unrecht ist, weil es nicht mehr vereinbar sein kann mit der Tatsache, dass jeder die Pflicht haben soll, sich totschiessen zu lassen für den Staat, aber nicht jeder das Recht, auf die Führung der Geschicke des Staates Einfluss zu nehmen. Das scheint der Regierung Nebensache zu sein, die Erhaltung eines Kriegsgewinnes die Hauptsache. Und Minister v. Loebell beugt vor, dass nicht die fordernden Parteien das Wahlrecht etwa als Entgelt für die Leistungen im Krieg beanspruchen, indem er sagt: «Sollte der Gedanke aufkommen, als bedeute die Lösung dieser Frage so etwas wie ein politisches Entgelt für die patriotische Pflichterfüllung ... so weise ich diesen Gedanken ganz entschieden zurück. Die Pflichterfüllung gegenüber dem Vaterland trägt ihren Lohn in der Befriedigung des eigenen Pflichtbewusstseins. Politische Berechnungen für Vaterlandsliebe gibt es nicht». Das ist vollkommen richtig. Nur darf man sich nicht durch das Wort Vaterland irreführen lassen und sich darunter lediglich eine Summe von Quadratkilometern vorstellen. Das Vaterland ist nichts ohne seinen Inhalt an lebendigem Volk, und die Pflichten, die jedes Mitglied dieses Volks den andern gegenüber hat, beschränken sich nicht nur auf die Regierten sondern auch auf die Regierenden. Nicht als Belohnung für geleistete Pflichterfüllung ist das Wahlrecht zu fordern, sondern als endliche Erfüllung einer bislang unterlassenen Pflicht. Und wenn diese Erfüllung gerade jetzt während des Kriegs gefordert wird, so geschieht es nur, um die himmelschreiende Unstimmigkeit auszugleichen, die in der grandiosen Pflichterfüllung auf der einen und jener unterlassenen Pflichterfüllung auf der andern Seite liegt. Nicht von Belohnung, Herr Minister, ist die Rede, sondern von Wiedergutmachung!

Die Friedensbetrachtungen während der Etatsdebatte bieten noch weniger hoffnungsfrohe Aussichten als die Erörterungen über die Wahlreform. Minister v. Loebell hat es für gut befunden, das deutsche Volk wieder nach alttestamentarischem Muster als ein «auserwähltes» herzustellen. «Das deutsche Volk muss sich mit Blut und Eisen seinen Weg bahnen zur Erfüllung seiner weltpolitischen Bestimmung».

Das ist gefährlichste Ritterromantik, Herr Minister. Diese Bestimmung ist Phantasie einiger verwirrt gewordener Darwinisten und politischer Kraftmeier. Das, was sie hier als ein Axiom aufstellen, ist die Theorie des Weltanarchismus, ist die Politik des Anrempelns und Stänkerns. Das deutsche Volk muss sich keinesfalls diesen Weg bahnen. Es muss vielmehr in Gemeinschaft mit den andern gleichberechtigten Kulturvölkern, durch die Mittel der Zusammenwirkung und des Ausgleichs zu einer Organisation zwischen den Staaten gelangen und ohne das teure Blut seiner Kinder und ohne das kalt brutale Eisen zum höchsten Glück emporschreiten. Haben anderthalb Jahre Weltkrieg und eine Million Erschlagener Deutscher die Unhaltbarkeit solcher Anschauungen nicht genügend dargetan? Hat sich nicht gezeigt, dass diese Wegebahnung den Widerstand einer Welt hervorruft und Blut auf Blut, Eisen auf Eisen und — in logischer Folge — Elend auf Elend häuft?

Es muss uns doch zu denken geben, wenn wir unsere Feinde immer wieder von der künftigen Ordnung eines organisierten Europas, von einem auf Recht gegründeten Frieden reden hören und nur bei uns immer wieder diese alten Gewalttiraden vernehmen, deren Verteidiger durch diesen Krieg wahrlich genügend Bankrott gemacht haben. Man höre doch endlich auf, mit dieser prahlenden burschikosen Gesinnung, mit der gefährlichen Blut- und Eisenmär. Die brechenden Augen unserer Toten verdammen sie.

Der Minister sprach davon, «dass der preussische Staat mit seiner historisch gerechtfertigten Eigenart und Gestaltung erhalten bleibt», darüber zu wachen sei die Pflicht der Regierung, «denn sie fühlt sich mit dieser Aufrechterhaltung vor der Weltgeschichte verantwortlich». Diese Eigenart des preussischen Staates, sich nur auf Blut und Eisen zu verlassen, und sich einen Weg zu bahnen ohne Rücksicht auf andere, die in der Welt auch leben wollen, wird vor dem Tribunal der Weltgeschichte keine Anerkennung erfahren. Die Stunde zeigt auf zwischenstaatliche Gemeinschaft, und wer da noch vom Wegebahnen durch Blut und Eisen spricht, der predigt Anarchie. Durch diese angeblich «historisch gerechtfertigte Eigenart» wird die Geschichte von der Einkreisung Deutschlands auch dem deutschen Volk genügend verständlich gemacht.

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