Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 2. November.

In Deutschland und Österreich wird stark die Zukunft ins Auge gefasst und energisch die Notwendigkeit einer wirtschaftlichen Gemeinschaft nach dem Krieg betont. Es schwebt den Meisten ein neues Gebilde vor, das mit der Bezeichnung mitteleuropäischer Staatenbund nicht genügend gekennzeichnet ist. Man klebt zu ängstlich an alten Formen und alten Begriffen und sieht dabei mit der Stärkung den Willen zur Vereinigung auch die Hindernisse wachsen. Es wird wohl nicht angehen, sich bloss mit einer Militär- und Wirtschaftsunion zu befassen. Dann könnte es passieren, dass die Militärunion rasch fertig wird und die Wirtschaftsunion nur als Ergänzung zu jener sich vollzieht, nur sofern sie Kriegswirtschaftsunion sein kann, während in allem übrigen das ancien régime bleibt. Wenn jemals die Ideen Kaiser Wilhelms von deutscher Weltherrschaft2)sich vollziehen könnten, so wäre hier nach dem Krieg die Möglichkeit gegeben, jenes Programm, «Nach aussen hin begrenzt, im Innern unbegrenzt» durchzuführen. Man müsste sich nur von den Glashändlern da und den Leinenhändlern dort nicht zu sehr dreinreden lassen.

Wir Pazifisten haben einst von einem Zusammenschluss Europas geträumt. Dieser Traum hätte erfüllt werden können; doch nicht durch den Krieg. Es hätte der vom Kulturwillen beeinflussten freien Entschliessung der Staaten bedurft, dieses Werk zu vollenden. Der Krieg hat die Erfüllung jenes Traums nicht verhindert, wohl aber, wie es scheint, auf lange hinaus verzögert. Wir haben unser Denken zu sehr durch das Geographische beeinflussen lassen. Die historische Entwicklung hat über die geographische gesiegt. Statt eines zusammengeschlossenen Europas werden wir ihrer zwei haben. Der Krieg hat die verschieden entwickelten Teile getrennt, der kommende Friede wird sie zusammenschliessen. Das konservative Europa wird unter der Führung Deutschlands zusammentreten. Es wird zunächst Deutschland, Österreich-Ungarn, die Balkanstaaten und die Türkei umfassen. Wohl auch jenes Gebilde, das sich in Polen entwickeln wird. Von der Nordsee bis zum persischen Meerbusen wird eine europäische Gruppe entstehen. Ihr Bestand wird die Bildung jener anderen Gruppe bedingen, die das liberale Europa umfasst. Aber diese beiden Gruppen werden eine starke Konzentrationskraft ausstrahlen, sie werden wachsen. Weit über Europa hinaus. Der Westgruppe wird sich Amerika anschliessen, und der Ostgruppe werden die Verhältnisse — leider — Russland zuführen. Je weiter sich diese Gruppen ausbilden werden, umsomehr wird der alte Traum vom einigen Europa verblassen. Die zwei Europas werden sich zu zwei Welten formen, die nicht mehr am Ozean ihre Grenze finden werden, sondern an der Maaslinie, den Vogesen und den Alpen. Wir haben es anders gewollt. Doch die Neugestaltung der Welt wird, wenn auch in anderer Form, von unsern Ideen durchtränkt sein.

Es ist unmöglich, dass sich diese beiden europäischen Gruppen nach der alten Schablone und als Kriegsgemeinschaft entwickeln werden. Man wird zwar versuchen, sie unter Anlehnung an die überkommenen Traditionen, als solche zu behandeln; aber gar bald wird sich der Stoff dazu nicht geeignet erweisen. Sie werden zu Lebensgemeinschaften ausgestaltet werden müssen, oder sie werden frühzeitig zerfallen. Die osteuropäische Gruppe darf daher nicht mehr als ein Ersatz des Dreibund ins Auge gefasst werden, nicht lediglich als eine Kriegsgemeinschaft. Sie wird als ein Staatenverein ins Leben treten müssen, mit allgemeiner Grundlage einer solchen Union. Das, was wir für Europa verlangt haben, wird jetzt für Osteuropa verlangt werden müssen. Ein befristeter Staatengrundvertrag wird den Canevas bilden müssen, auf den alle gemeinsamen Einrichtungen aufzubauen sein werden. Gemeinsame Militär- und Wirtschaftszentren, aber auch gemeinsame Beratungszentren (Zollparlament, Botschafterreunionen) vielleicht eine oberste Gerichtsbehörde für private und staatliche Streitigkeiten, einen Staatenvereinsgerichtshof usw. Die Gemeinschaft wird die staatliche Souveränität nicht aufheben, sondern nur befristet binden. Denn wenn man etwas für die Dauer errichten will, darf man es nicht «ewig» binden wollen. Es muss zeitlich begrenzt sein, und diese zeitliche Grenze, getrieben vom Interesse, stets erweitern können. Das wird den Staatenverein vom alten Zwangssystem der Staatenbildung unterscheiden. Neue Methoden werden zur Anwendung kommen müssen, und es werden die von uns geforderten und ausgebildeten sein. Leider nur für eine in zwei Teile zerrissene Welt. Vielleicht aber ist dieser Umweg eine Beschleunigung. Denn eines Tages werden diese beiden Teile doch zusammenwachsen, und es wird sicher leichter sein, zwei Gruppen zu vereinen als zwanzig oder dreissig Einzelstaaten.

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Die Massregelung Wehbergs ist ein sprechendes Zeichen der Zeit, in der wir leben. Das Generalkommando hat ihm verboten: 1. An der Tagung des internationalen Kongresses in Bern am 14. Dezember persönlich oder durch Referat teilzunehmen, 2. Briefwechsel mit Ausländern oder mit dem Auslande ohne Genehmigung des Generalkommandos zu führen. Gleichzeitig wurde ihm erklärt, dass er jetzt polizeilich überwacht werde, er müsse daher seinen Aufenthalt stets peinlichst angeben.

Als Ausländer werden auch Österreicher betrachtet, so dass W. auch mit mir nicht korrespondieren kann.

Auf Grund der Mitteilungen über die Massregelung habe ich mich nun heute endgiltig entschlossen, an der Tagung der Hauptversammlung der Deutschen Friedensgesellschaft in Leipzig nicht teilzunehmen. Wenn man Österreicher als Ausländer betrachtet, setzt man sich Unannehmlichkeiten aus, die besser vermieden werden.

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Gertrud Bäumer rechtfertigt in der Zeitschrift «Die Frauenfrage» die ablehnende Haltung des von ihr präsidierten «Bund deutscher Frauenvereine» gegen den Haager Frauenkongress vom April dieses Jahres. Der Bund hatte die «Propaganda für diesen Kongress, sowie die Beteiligung daran für unvereinbar mit der vaterländischen Gesinnung und der nationalen Verpflichtung der deutschen Frauenbewegung» erklärt. Unvereinbar! Fräulein Bäumer erläutert diesen Beschluss: Nicht der Kampf der Frauen für den Frieden sei gemeint, sondern nur die besondere Form des Kampfes wie er in der Veranstaltung des Haager Kongresses zum Ausdruck kommt. Und an anderer Stelle erklärt sie als den tiefsten Kern ihres Widerstandes: «Wir können uns heute nicht ,international’ machen!, gerade wir Frauen nicht». — Das ist nun Ansichtssache. Meiner Meinung nach kann man sich umso internationaler geben, je tiefer national man empfindet. Und wenn ich glaube, meinem aus Millionen Wunden blutenden Volk dienen zu können, indem ich mich mit Gleichgesinnten anderer Länder zusammenfinde, so mache ich mich dadurch nicht «international» sondern bleibe national von jener tiefen Art, die nicht durch äusserliche Bekundungen, sondern durch innerlichstes Erleben gekennzeichnet ist. Die Veranstaltung, an der ich mich beteilige, wird durch die Beteiligung verschiedener Menschen anderer Länder allerdings international, aber auch nicht in jenem verächtlich durch Anführungszeichen gekennzeichneten, sondern in jenem adligen Sinn der durch keine künstliche geographische Trennung beeinträchtigten Liebe zur Menschheit, die nur eine höhere Liebe zum eigenen Volk ist.

Fräulein Bäumer möchte das Odium der Friedensgegnerschaft, das ihr und dem Bund infolge jener Stellungnahme angehängt wurde, gern von sich abwälzen. Sie weist deshalb darauf hin, dass dem Bund Deutscher Frauenvereine «nicht wenige Frauen» angehören, die «grundsätzlich für das Ziel eines Weltfriedens auf Grund von Schiedsgerichten (!) kämpfen», und dass es keine deutsche Frau gibt, die nicht aus tiefster Seele den Frieden «ersehnt». Damit ist gekennzeichnet, wie weit die Verfasserin von der modernen Friedenstechnik abseits steht. Die Friedens-«Ersehner», jene die einen Weltfrieden «auf Grund von Schiedsgerichten» sich vorstellen, sind Sonntags-Nachmittags-Pazifisten, die den Frieden bloss «lieben», die jedoch von dem, was ihm not tut, keine Ahnung haben. Sie gleichen Kunstenthusiasten, die sich an Öldruckbildern ergötzen. Zugunsten der pazifistischen Bereitschaft des Bundes deutscher Frauenvereine ist damit so gut wie gar nichts gesagt.

«Es sind 28 Frauen im Haag gewesen», ruft Fräulein Bäumer triumphierend aus, «das heisst, die Deutsche Frauenbewegung ist im Haag nicht vertreten gewesen». — Das heisst es nicht! Für den Besuch des Kongresses hatte nicht in voller Öffentlichkeit Propaganda gemacht werden können. Auf den Besuchern lastete überdies der Vorwurf der «Vaterlandslosigkeit», während die Daheimgebliebenen sich in der Sonne der Gutgesinntheit wärmen konnten. Unter diesen Umständen zählen diese mutigen und unabhängigen 28 Frauen hoch. Sie haben Millionen deutscher Frauen vertreten, die mit ihnen eines Sinnes waren und das grosse Werk, das sie betrieben, billigten.


2  «Das Weltreich, das ich mir geträumt habe, soll darin bestehen, dass vor allem das neuerschaffene Deutsche Reich von allen Seiten das absoluteste Vertrauen als eines ruhigen, ehrlichen, friedlichen Nachbarn geniessen soll, und dass, wenn man dereinst vielleicht von einem deutschen Weltreich oder einer Hohenzollern-Weltherrschaft in der Geschichte reden sollte, sie nicht auf Eroberung begründet sein soll durch das Schwert, sondern durch gegenseitiges Vertrauen der nach gleichen Zielen strebenden Nationen, kurz ausgedrückt, wie ein grosser Dichter sagt: «Aussen hin begrenzt, im Innern unbegrenzt». Kaiser Wilhelm II. am 22. März 1905 in Bremen}.