Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Thun, 24. Juni.

Vorgestern haben wir Lemberg wieder eingenommen. In Österreich ist grosser Jubel. Wenigstens an der Oberfläche. Ich kann mich dieser Begeisterung nicht anschliessen. Wir haben Lemberg, das wir vor einem Jahr ohnehin hatten. Ganz Galizien hatten wir und dazu eine Viertel Million Menschen, die wir heute nicht mehr haben. Wir hatten ein Land, das heute ein Trümmerhaufen ist, und das erst die Arbeit von zwei Generationen wieder zu dem machen wird, was es vor dem ersten August 1914 war. Wenn die Eroberung fremden Gebiets eine «grosse Täuschung» ist, was bedeutet erst die Wiedereroberung einer Provinz, die man vor dem Krieg schon besessen hat, und die die Verwüstungen eines modernen Kriegs über sich ergehen liess. Das Hurrahgeschrei der Patrioten kommt mir dabei vor, wie das ablenkende Lachen der Erwachsenen, wenn ein kleines Kind fällt, womit man es vom Weinen abhalten will, indem man es an seinen Schmerz vergessen zu machen sucht.

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Das Oberkommando in Berlin hat das Erscheinen der «Deutschen Tageszeitung» verboten. — Das hätte schon vor zehn Jahren erfolgen sollen. Wir hätten heute blühendes Leben statt Eisenhagel. Die Ursache des Verbots liegt in der Stellungnahme Reventlows gegenüber der amerikanischen Note. Er warnte vor Konzessionen, behauptete, es läge nichts daran, wenn auch noch die Vereinigten Staaten Krieg gegen uns führten, und tadelte im voraus die Schlappheit der verantwortlichen Männer in der Regierung, die sich auf Konzessionen einlassen würden. Diese «Krieger um jeden Preis», die aus Europa eine Mensurbude machen wollen, sind von oben her zu gut behandelt worden. Ihnen ist der Kamm ungeheuer geschwollen. In Zukunft wird ein mächtiges Abrücken der Regierung von ihnen als Gebot der Vernunft, als vaterländische Pflicht erscheinen.