Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

12. August 1914.

Nichts wird gemeldet; und doch ereignet sich so viel. Das grösste Ringen der Welt hat angefangen, und wir werden auf die künftigen Geschichtsbücher verwiesen. Wir werden — wenn wir es überhaupt überleben — eines Tages wie aus einer tiefen Bewusstlosigkeit erwachen. Und wie ein aus der Ohnmacht erwachter Kranker werden wir uns von unserer Umgebung erzählen lassen, was einstweilen vorgefallen ist.

Gestern sind die diplomatischen Beziehungen zwischen Österreich-Ungarn und Frankreich abgebrochen worden. Seit 55 Jahren wieder Feindschaft zwischen diesen beiden nicht benachbarten Reichen. Wer hätte das vor zwei Monaten gedacht als ich mich anschickte nach Paris zu reisen, wo ich am 15. Juni eintraf. Wie friedlich sah es damals noch in Paris aus. Wie mag es heute dort aussehen? — Wer dachte damals daran, dass die Ferienmonate statt der ersehnten Erholung den Krieg, den Weltkrieg bringen würden? Niemand! Das ist also der durch die Rüstungen gesicherte Friede, dass über Nacht der Krieg kommen konnte.

Die Zeitungen sind voll über die Roheiten der Belgier. Grauenhafte Einzelheiten werden geschildert. Auch den Franzosen wird Roheit vorgeworfen. Man entsetzt sich darüber, und damit ist der gewollte Zweck erreicht. Diejenigen, die solche Greueltaten lesen, hassen den Feind. Wir Pazifisten urteilen anders. Wir hassen nicht den Feind, sondern den Krieg, der der Vater all dieser Greuel ist. Sie liegen im System und sind davon nicht zu trennen. Der Weltkrieg wird den Bankrott derjenigen besiegeln, die sich bestreben, den Krieg zu humanisieren. Diesen Bankrott haben wir immer vorausgesagt. Der Krieg lässt sich nicht humanisieren. Wie oft habe ich dies dargelegt, namentlich zu jener Zeit, als sich die Haager Konferenzen mit dieser Kriegshumanisierung abquälten. In meinem Buche über die Ergebnisse der II. Haager Konferenz sagte ich (S. 210): «Die Anschauung der Pazifisten geht dahin, dass alle diese gut gemeinten Bestrebungen, die Schrecken und die Nachteile des Krieges zu verringern, unwirksam oder unheilvoll sein müssen. Unwirksam, weil diese Bestrebungen dem Wesen und dem Zweck des Krieges widersprechen, und es somit nur in sehr beschränktem Masse möglich sein kann, Milderung des Verfahrens eintreten zu lassen; unheilvoll, weil schon der gute Glaube an die Wirkung all dieser Humanisierungs- und Reglementierungs-Übereinkommen, eventuell auch die durch die Beschränkung der Kriegswirkung erzielten geringen Erleichterungen, das sicherste Hemmnis gegen den Krieg, das Verantwortlichkeitsgefühl der Regierenden, zu lähmen imstande ist . . .» Ich führte dort auch einige Beispiele dafür an, dass selbst in militärischen und Regierungs-Kreisen, die Skepsis über die Humanisierung der Kriege sehr gross ist. So die Äusserung eines preussischen Generals — ich entsinne mich seines Namens nicht mehr; aber es war in einem Artikel der «Deutschen Rundschau» — der die grösste Unhumanität im Kriege als die höchste Humanität bezeichnete, denn sie führe zu raschester Beendigung des Krieges und die Äusserung des vormaligen Staatssekretärs Dernburg, der im Hinblick auf den Krieg in Südwestafrika gesagt hat: «Eine menschliche Kriegführung gibt es überhaupt nicht». Das entspricht den Tatsachen.