Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

16. Oktober 1914.

D’Estournelles soll sich, nach Zeitungsmeldungen sehr verwerflich über Deutschland geäussert haben. «Es bleibt nichts anderes für Deutschland übrig, als unter dem Fluch der ganzen Welt zu verschwinden.» Und so ähnlich. Die Zeitungen fallen wild über ihn her. Begreiflich. Keine einzige Zeitung berichtet, w o d’E. diese Äusserung getan hat. Ehe ich sie nicht authentisch vernehme, glaube ich sie nicht, und ich stehe nicht an, zu erklären, dass es keinen ehrlicheren Freund Deutschlands gegeben hat als diesen Mann.6)

Aber dieser Mann ist jetzt stigmatisiert, als Lügner, Verruchter, Zarenagent hingestellt, und der «liebe Leser» nimmt es gläubig hin. Ein Blatt wie die «Vossische Zeitung» entblödet sich nicht (Abendausgabe 9. Oktober), auf Grund einer zehnzeiligen nirgends beglaubigten Äusserung einfach festzustellen, «dass der französische Pazifismus bloss die Anwendung anderer Mittel zu dem Zweck gewesen ist, den der französische Militarismus verfolgte, zur Schwächung und schliesslichen Zertrümmerung Deutschlands.» — Das ist einfach unerhört und traurig.

Aus einem Bericht von Dr. Paul Graber im «Berliner Tageblatt» (10. Oktober) ist Folgendes festzuhalten:

«Und noch ein anderes Bild, voll grausigen Schreckens, von jenen Kämpfen in den letzten Tagen, wie es mir einer der Augenzeugen schilderte, der da vorn im ersten Schützengraben gelegen hat. Nach langem Artilleriekampf, der unseren Stellungen schwer zugesetzt und sie scheinbar ermattet hat, wagen die Franzosen im Morgengrauen den Sturm. Ihre Infanterie kommt herangesprungen im breiten Schwarm. Lautlos bleibt alles in unseren Schützenlinien. So setzen sie heran bis auf 150 Meter zu den Drahtverhauen, die unsere Stellung decken. Da plötzlich ein schrilles «Feuer!». Und der Tod pfeift aus hundert Schlünden in die Menschenmasse hinein, die sich gerade im Drahtverhau verfängt. In ein paar Minuten stürzt zurück, von Angst geschüttelt, was noch am Leben ist und laufen kann. Aber in dem Drahtverhau hängen noch hunderte von Franzosen, die nicht vor- und nicht rückwärts können. Den ganzen Tag hindurch geht ihr Gewimmer, ihr Schreien um Hilfe hinüber zu unseren Leuten im Schützengraben. Doch als diese, von Mitleid getrieben, sich herauswagten, um die Unglückseligen aus den Drähten zu befreien, werden sie sofort vom feindlichen Artilleriefeuer überschüttet und müssen zurück, um ihr eigenes Leben zu retten. So bleiben notgedrungen die Ärmsten da vorn ihrem Schicksale überlassen.

Das ist der Krieg in Wahrheit. Nichts törichter als die gedankenlose Phrase vom frisch-fröhlichen Krieg, die sich so leicht am Biertisch daheim aussprechen lässt. Nur wer draussen an der Front war, kennt ihn wirklich mit all seinen Schrecken, und nur der auch vermag voll zu würdigen, was unsere Brüder da vorne leisten, die nun schon über neun Wochen für Deutschlands heilige Sache streiten. Ehre ihnen allen, die da leben und fielen! Und möchte sich jede Hand drinnen im Vaterland rühren, ihnen ihr hartes Los zu erleichtern durch unablässiges Spenden von Liebesgaben, namentlich von wärmendem Wollenzeug, aber auch von dem belebenden Tabak, der unseren Braven die nötige Auffrischung gibt nach den ungeheuren Anspannungen ihrer Kräfte».

Vielleicht ist doch noch etwas anderes nötig als Wollzeug und Tabak: Vernunft, auf dass diese Tiererniedrigung der Menschheit sich nicht mehr wiederhole.

Für die Militaristen ist der Krieg eine höhere Idee, die die Menschheit regiert. Das tragische daran ist nur, dass Millionen Menschen ihn führen müssen, die bereit gewesen wären, ihr ganzes Leben in friedlicher Arbeit und im friedlichen Verkehr mit den Menschen der andern Länder zu verbringen. Es ist einfach nicht wahr, dass der Krieg, der zwischen 60 oder 100 Millionen desselben Staates unmöglich gemacht wurde, Naturgesetz zwischen den Angehörigen anderer Staaten sein soll. Die Natur macht solche Ausnahmen nicht. Sie macht nur der Mensch, der eine Ausrede sucht.


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Soll, wie mir später berichtet wurde, tatsächlich falsch
zitiert sein.