Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 20. September.

Der «Simplizissimus» hat sein Lager vergrössert. Unter die Zahl der Ecksteine, an denen er sein humoristisch sein sollendes Bedürfnis vollzieht, ist jetzt Rumänien aufgenommen worden. Der Leser wird damit getäuscht. Der Witz ist der gleiche,  einerlei welches Volk für die Texte und die Bildcharakteristik herhalten muss. Da es in Berlin einmal einen berüchtigten Hoteldieb gab, der rumänischer Nationalität war, stellt der «Simplizissimus» die Rumänen als ein Volk von Hoteldieben dar. Auch als Schakal wird es vorgeführt.

Wie hätte der «Simplizissimus» wohl Rumänien und das rumänische Volk behandelt, wenn sich die Regierung dem Vierbund angeschlossen hätte. Die «Hoteldiebe» wären zu Helden avanciert und der Schakal hätte sich zu einem Löwen gewandelt.

Diese Haltung der Witzpresse — doch nicht der Witzpresse allein — erinnert an die Advokatenpraktiken im Zivilprozess. Der Gegner ist da immer der Ausbund der Schlechtigkeit. Und wenn der Zufall es gewollt hätte, dass die sich bekämpfenden Advokaten zur Vertretung ihrer Gegenparteien berufen worden wären, würde der von ihnen bekämpfte Gegner als ein Ausbund der Tugend dargestellt werden.

Die Bildfälschungen der illustrierten Sensationspresse sind durch Avenarius nützlicherweise zum Gegenstand einer Studie gemacht worden. Dabei handelt es sich nur um die Feststellung von Tatsachenfälschungen. Die Fälschung der Ideen und Gesinnungen sollte ebenso entlarvt werden. Nicht aber, um die armseligen Verüber blosszustellen, vielmehr um die Sumpfatmosphäre erkennbar zu machen, die der Krieg zeitigt.

Wie diese Ideenfälschungen bewirkt werden, zeigt augenfällig ein Artikel des «Tag» («Deutsche und britische Träume», 13. Sept.), der sich die Aufgabe stellt, den Aufruf der «Zentrale Völkerrecht» im deutschen Volk zu diskreditieren. Diesem Aufruf, der einen Frieden wünscht, der «von allen Beteiligten als eine befriedigende Ordnung ihrer internationalen Beziehungen anerkannt werden kann», der sich gegen gewaltsame Annexionen ausspricht und «der alten, friedengefährdenden Politik des Wettrüstens» ein Ende setzen will, wird ein Aufsatz der «National Review» gegenübergestellt, der eine Zerstückelung Deutschlands vorschlägt, eine dauernde Besetzung Kiels, eine Zerstörung des Nord-Ostseekanals, eine Niederbrennung des Berliner Generalstabsgebäudes und anderer öffentlichen Bauten fordert.

Diese Gegenüberstellung ist eine Fälschung. Eine Fälschung nicht weniger arg als jene einer französischen Zeitung, die photographische Aufnahmen russischer Pogromgreuel als deutsche Greueltaten darstellte. Sie ist eine Fälschung, in der bewussten Absicht unternommen, eine aus edlen und patriotischen Motiven hervorgegangene Aktion in den Augen des deutschen Volks zu entehren. Es ist doch klar, dass die Phantasien der «National Review» nicht die Anschauungen des englischen Volks wiedergeben. Vielmehr ist es Tatsache, dass die von der «Zentrale Völkerrecht» geäusserten Ansichten über die Gestaltung des künftigen Friedens auch in England wiederholt und nachdrücklichst vorgebracht wurden. Die Aufnahme dieser Ansichten von einer deutschen Stelle lag daher im Interesse Deutschlands. Andernfalls wären die von der «National Review» repräsentierten Ultras und Eisenfresser Englands nur gestärkt worden!

Würde man es wagen, um den Wert eines Strafgesetzbuchs zu illustrieren, den Anschauungen eines gelehrten Juristen die eines Gewohnheitseinbrechers gegenüberzustellen, um damit zu beweisen, dass das Strafgesetzbuch keinen Wert habe? — Die Antwort erübrigt sich. — Und doch ist die Fälschung im «Tag» nicht um ein Haar plumper als die des angeführten Beispiels. Sie ist überdies eine Beleidigung des deutschen Volks, da sie ihm zumutet, dass es das Manöver nicht zu durchschauen vermag. Der Frevel liegt aber darin, dass die Verüber wissen mussten, dass grosse Teile des Volks infolge der durch den Krieg getrübten Atmosphäre gar nicht in der Lage sind, klar zu sehen und so bewusst zum Nachteil des Landes irrgeführt und betrogen werden konnten.

In Österreich ist eine Entdeckung gemacht worden. Der Abgeordnete Zenker hat in seiner Zeitschrift «Die Wage» (9. IX.) eine, zwei Drittel der Nummer umfassende Abhandlung über Kants Schrift «Zum ewigen Frieden» veröffentlicht. Diese Schrift ist im Jahre 1795 erschienen. Was aber die Friedensbewegung in den seitdem verflossenen 120 Jahren gewirkt hat, ist dem Verfasser nicht ganz klar. An einer Stelle seines Aufsatzes (Seite 443, Zeile 8 v. o.) deutet er an, dass man bisher nichts anderes getan hätte, als auf internationalen Kongressen zu sprechen und essen.

Das wäre nicht viel in 120 Jahren. Es ist wahrhaftig nötig, dass die Führer des Volks sich mit der wichtigsten Bewegung der Gegenwart vertraut machen. Wer würde über die moderne Elektrotechnik sich etwas zu sagen trauen, der über Volta noch nicht hinausgekommen ist.