Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 27. Februar.

Im preussischen Abgeordnetenhaus hat der freisinnige Abgeordnete Dr. Mugdan eine «von allen Seiten» mit lebhaftem Beifall aufgenommene Rede gehalten. Er trat für die Menschenzucht nach dem Kriege ein. Der Brunnen soll zugedeckt werden, nachdem das Kind hineingefallen ist. Er forderte in seinen Ausführungen die Bekämpfung des Geburtenrückgangs, Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit, Mutter- und Säuglingsschutz, Krüppelfürsorge, Verbesserung des Wohnungswesens u.a., nur die Bekämpfung des Krieges forderte er nicht. Kein Wort davon, dass es klüger gewesen wäre und auch in Zukunft klüger sein würde, die geborenen Menschen (nicht bloss die Säuglinge) von dem zu frühen Tod zu schützen, als sich krampfhaft für die Erzeugung des Menschen als Massenware einzusetzen, mit dem unausgesprochenen Hintergedanken, den so erzeugten Überschuss wieder einmal dem Moloch des Krieges in den Rachen jagen zu können. Zum Schlusse sagte Dr. Mugdan:

«Die Zukunft wird uns grosse Aufgaben bringen, aber ich habe die Überzeugung, dass unser deutsches Volk diese Aufgaben erfüllen wird. (Oh ja! Das wollen wir hoffen!) Aus den Millionen von Opfern dieses Kriegs, aus dem Tode, der uns überall entgegenstarrt, wird neues Leben erblühn (Hoffentlich! Aber nicht wiederum dem Schlachtentod geweihtes. Und auch neue Ideen, neue Auffassungen!), und in der Zukunft wird unser Vaterland wieder so glänzend erstrahlen, wie wir alle wünschen. Seien Sie überzeugt, dass in dieser Zukunft die Ärzte und ihre Helfer alles tun werden, um die Sicherung unserer Zukunft dadurch herbeizuführen, dass sie nach Möglichkeit die Volkskraft in unserm Vaterland heben und stärken».

Dann müssten sich die Ärzte, die berufenen Schützer des Lebens, an die Spitze der Kriegsbekämpfung stellen und mit aller Macht dafür eintreten, dass das deutsche Volk niemals wieder in die traurige Lage kommt, erst aus Ruinen neues Leben erwarten und züchten zu müssen.

Aus Ruinen! Seit sechs Tagen wogen die Kämpfe um Verdun. Nach den Zeitungsmeldungen vielleicht die blutigsten dieses an Blutigkeit unübertroffenen Krieges. Beide Teile werfen sich in ihren Berichten die rücksichtsloseste Menschenvergeudung vor. Beide sprechen von den Leichenhaufen — der Andern. Der Gedanke, wie hier zwei Völker, die zu etwas Besserem bestimmt wären, sich gegenseitig zerfleischen, wie sie einander die Bande von tausenden von Familien zerfetzen und gegenseitig Schicksale vernichten, bringt einem, dessen Fühlen nicht vom sogenannten Patriotismus gelähmt ist, dem Wahnsinn nahe.

Der heutige amtliche Bericht des grossen Hauptquartiers meldet die Anwesenheit des Kaisers bei diesen Kämpfen. Ich erinnere mich dabei jenes Bildes, das ich als sechszehnjähriger Junge gesehen. Es ist von Wereschagin und zeigt den Zaren Alexander II., wie er, auf einer entfernten Anhöhe in einem bequemen Lehnstuhl sitzend, von einer glänzenden Suite umgeben, einen Feldstecher vor den Augen, der blutigen Schlacht bei Plewna beiwohnt. Dieses Bild hat mich zum Pazifisten gemacht. Damals empörte sich zum erstenmal mein Herz gegen den Krieg und liess in mir den Entschluss reifen, seiner Bekämpfung mein Leben zu weihen.

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Die Apachen des Burgfriedens sind tapfer bei der Arbeit. Ungehindert durch Gesetze, im Schutze dessen, was sie gute Gesinnung nennen, lügen, verleumden und besudeln sie weiter. Heute kam mir wieder ein Ausschnitt aus der «Deutschen Tageszeitung» vom 23. Februar zu. Er sagt Folgendes:

«Ein ,deutscher Halunke’. Die berüchtigte Schandschrift ,J’accuse’ wurde bisher vielfach einem früheren Berliner Rechtsanwalt Dr. Greiling zugeschrieben. Jetzt teilt ein Mitarbeiter der «Vossischen Zeitung» mit, dass die Schrift von einem ,deutschen Halunken’ namens Fernau geschrieben sei. Die ,Freisinnige Zeitung’ fügt hinzu, Herr Fernau sei Mitarbeiter der von uns kürzlich gekennzeichneten Fried’schen ,Friedens-Warte’ in der er u.a. Ende vorigen Jahres einen unverschämten Aufsatz gegen den Patriotismus veröffentlicht habe».

Hermann Fernau hat im vorigen Jahr einen einzigen Aufsatz für die «Friedens-Warte» geschrieben, der sich «Geistiges Elend» betitelt. Einen einzigen Aufsatz, und nicht wie es heisst «u.a.». Über die «Unverschämtheit» dieses Aufsatzes kann man verschiedener Meinung sein. Ich halte ihn für eine ernste Kritik der Kriegspsychose, wie sie im geistigen Leben aller kriegführenden Nationen so arge Verwüstungen angerichtet hat. Aber dem Lügner lag nur daran, zu berichten, dass ein «Halunke» Mitarbeiter der «Friedens-Warte» ist. Halunke soll Fernau aber deshalb sein, weil er der Verfasser von «J’accuse» ist, jenes Buches, von dem ernste deutsche Staatsmänner gesagt haben, dass sie jede Zeile davon unterschreiben. Nun weiss ich auf das Bestimmteste, dass Fernau der Verfassung des Buches «J’accuse» so fern steht wie der Entdeckung Amerikas. Das kann ich auf Ehre und Gewissen bekunden. Wo steckt nun der Halunke? — Einen «Deutschen» möchte ich ihn nicht nennen, denn sein Vorgehen ist im höchsten Grade undeutsch.

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Ein Dogma der Kriegsanbeter ist nun wohl endgültig zu Grabe getragen. Wenn man sieht, mit welcher Sorge der Staat daran geht, die künftige Menschenaufzucht zu betreiben, sich vor der kommenden Menschennot zu fürchten, so wird man annehmen können, dass das vor der Katastrophe so oft gehörte Argument, der Krieg sei notwendig, weil es sonst zuviel Menschen auf der Erde gebe, nun für immer entschwunden sein wird. Nun habt ihr den Krieg, und ihr merkt bereits, wie sehr euch die Menschen fehlen werden, die er euch geraubt!