Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 19. Juni.

Am Sonntag ist im deutschen Hauptquartier unter Fürstlichkeiten und Generale das dreißigjährige Regierungsjubiläum des Kaisers militärisch-festlich begangen worden. Dreißig Jahre. Wehmütige Erinnerungen. Es sind auch dreißig Jahre unseres Lebens, die dahin gegangen sind und die anders erfüllt und ausgefüllt zu sehen, unsere Hoffnung war. Eine getäuschte Hoffnung. Mit Wehmut lese ich den Artikel nach, den ich vor fünf Jahren zum fünfundzwanzigsten Regierungsjubiläum des Kaisers geschrieben habe. Mit welchen Hoffnungen! Dass es keinen Herrscher eines europäischen Großstaates gegeben habe, der 25 Jahre regiert hatte, ohne das seine Regierung nicht durch einen Krieg befleckt worden wäre.

«Er hätte die Macht gehabt, es zu tun,» so schrieb ich, «er hätte Hunderttausende im Volk gefunden, die ihm Beifall zugejubelt haben würden. Und doch lies er sich nicht auf die gefährliche Bahn bringen.»

Das war 13 Monate vor der Weltkrise des Jahres 1914. Ich zitierte damals, auch noch voll Hoffnung, jene Stelle aus der berühmten Bremer Rede von 1905, an die auch heute erinnert werden soll. Heute mehr als je.

«Das Weltreich, das ich mir erträumt habe, soll dann bestehen, dass vor allem das neuerschaffene Deutsche Reich von allen Seiten das absoluteste Vertrauen als eines ruhigen und friedlichen Nachbarn genießen soll, und das, wenn man dereinst von einem deutschen Weltreich oder einer Hohenzollernweltherrschaft in der Geschichte reden sollte, sie nicht auf Eroberungen begründet sein solle durch das Schwert, sondern durch gegenseitiges Vertrauen der nach gleichen Zielen strebenden Nationen, kurz ausgedrückt, wie ein großer Dichter sagt: Außenher begrenzt, im Innern unbegrenzt.»

Ich pries diesen Sah als eine Verkündigung der Weltbundesidee.

Dahin! Dahin!

Das dreißigjährige Jubiläum fand in Feindesland statt. Der Generalfeldmarschall von Hindenburg — wo war er vor fünf Jahren? — hielt die Ansprache. Er sprach von den «Ränken» der Gegner, von den «Neidern», die dem deutschen Volk den Platz an der Sonne nicht gönnen wollten, und ähnlichen Auslegungen der Kriegsursache. Und er vergaß nicht, den Kaiser zu preisen als den «Kriegsherrn, der unermüdlich über die Schlagfertigkeit des Heeres gewacht und sie mit weitem Blick gefördert hat». Und der Kaiser gedachte in seiner Erwiderung der Friedensjahre schwerer und lohnender Arbeit, die wohl politisch nicht immer erfolgreich gewesen, aber dem Kaiser doch in der Beschäftigung mit seiner Armee, Erholung brachten. Das deutsche Volk sei sich beim Ausbruch des Krieges nicht darüber klar gewesen, was er bedeuten wird. Nur der Kaiser wusste es. «Ich wusste es ganz genau um was es sich handelte ... es handelte sich um den Kampf von zwei Weltanschauungen.» Um die preußisch-deutschgermanische Weltanschauung, über Recht, Freiheit, Ehre und Sitte, ob die die Herrschaft behalten sollte, oder dir angelsächsische, die dem «Götzendienst des Geldes verfallen» sei. Und der Kaiser trank «auf den Sieg der deutschen Weltanschauung». Es ist vier Jahr Krieg, und Weltanschauungsfragen lassen sich in einem Kriegslager schwerlich mit unbefangener Genauigkeit erörtern. Die Auslegung des Kaisers über den Sinn des Kriegs ist nur eine weitere zu den Hunderten, die über den Sinn des sinnlosesten aller Kriege seit dessen Beginn schon vorgebracht wurden. Ein jeder sucht, die große gähnende Lücke zu füllen. Sie ist nicht zu füllen. Der Krieg hat keinen Sinn. Die Auslegung des Kaisers kommt der Erscheinung noch am nächsten. Er ist der Kampf zweier Weltanschauungen. Zu dem ist er aber erst geworden. Die Differenz der Weltanschauung hat ihn nicht hervorgerufen, und es ist schwer, gewusst zu haben, was aus dem Krieg sich entwickeln wird. Er ist, heute , der Krieg zweier Weltanschauungen. Aber diese verschiedenen Anschauungsweisen kennzeichnen sich nicht so wie der Kaiser sie darstellt. Der preußisch-deutschen steht nicht Geldgötzentum gegenüber. Ganz etwas anderes! Aber man kann eben im vierten Kriegsjahr, in einem Waffenlager, die Menschheitsidee nicht in ihren klaren Umrissen erkennen. Und der Krieg mit tausend Sinnigkeiten brennt weiter.