Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 28. Februar.

Die 2 1/2 Jahre des Kriegs sind heute voll. Dreissig Monate ringt die Menschheit in Irrsinn und Verzweiflung. Die Bilanz ist leicht gemacht. Die Vernichtung ist überall sicher, der Sieg nirgends. Noch erhofft man überall die Entscheidung, noch krampfen alle Staaten ihre Kräfte zusammen, als ob der Krieg erst gestern begonnen hätte.

Die gestrige Rede des Reichskanzlers bietet wenig Inhalt, lässt noch weniger erhoffen. Vielleicht ist er in dem einen Satz zu finden, wo der Kanzler von dem unwiderruflichen Entschluss spricht, «zu fechten bis die Feinde zum Frieden bereit sind».  Bereit — das klingt besser als wenn es hieße: geschlagen oder besiegt. Der Satz drückt die eigene Friedensbereitschaft aus. Allerdings wird die Andeutung über das Kriegsziel, die der Kanzler gemacht, Verhandlungen kaum in Bewegung bringen. «Dem Krieg ein Ende zu machen durch einen dauerhaften Frieden, der uns eine Entschädigung gewährt für alle erlittene Unbill» das weist auf Friedensbedingungen hin, die nur Besiegte auf sich nehmen können. «Für alle erlittene Unbill»! — Diese Entschädigung müsste so gross sein, dass sie niemand gewähren könnte. Kann überhaupt alles, was das Volk erlitten, jemals voll entschädigt werden? — Und haben die andern Völker keine Unbill erlitten? Liegt die Geschichte des Kriegsbeginns wirklich so klar, dass man das Recht auf Entschädigung der andern einfach mit deren Schuld am Krieg bestreiten könnte?

Diese Andeutung der Kriegsziele des Kanzlers besagen gar nichts. Vielleicht liegt darin ihr ganzer Wert. Denn dadurch wird das länderfressende Gebaren der Annexionisten, das gerade in der letzten Zeit sich so lärmend hervortat, eigentlich abgelehnt.

Aber wenn der Kanzler die Kraft besässe, diesem Treiben mit Entschiedenheit entgegenzutreten, würde er die Friedensmöglichkeit beschleunigen und dadurch dem Volk einen grösseren Dienst leisten, als durch dieses unentschiedene Verhalten gegenüber jenen, die den Krieg verlängern.

Ebenso orakelartig sind des Kanzlers Andeutungen über die Änderungen in der innern Politik. Diese Unklarheit zeigt die Unsicherheit, das Tappen im Finstern. Sie befriedigt niemand, sie lässt vor allem jene Stärke vermissen, die den Krieg beendigen und die Volksforderungen befriedigen kann.

Als eine eigentümliche Apotheose zur zweiem-halbjährigen Dauer des Weltgemetzels liest sich eine Äusserung, die der nationalliberale Führer Bassermann in der letzten Nummer der «Leipziger Illustrierten Zeitung» veröffentlicht.

Als vor zweieinhalb Jahren die allgemein bewunderte patriotische Aufwallung durch das deutsche Volk ging, da war es der Lockruf «Nieder mit dem Zarismus», «Nieder mit russischer Unkultur», der dies bewirkte und der mordende, sengende und schändende Kosak wurde uns als das Sinnbild dieses östlichen Barbarentums gezeigt. Japan gegenüber war die Verachtung so gross, dass die Regierung es unter ihrer Würde fand, das japanische Ultimatum zu beantworten, und Hardens Wort von den gelben Stinkaffen fand grinsenden Beifall. Seitdem ist es schon lange still geworden im deutschen Blätterwald mit der Beschimpfung Japans, das man als künftigen Bundesgenossen ins Auge zu fassen anfing.

Und nun kommt der alldeutsch gesinnte Parteiführer Bassermann und fordert für die Zukunft offen die politische Annäherung an Japan und Russland! - Und Russland!

Kann es eine drastischere Verurteilung des Kriegs im allgemeinen, dieses Kriegs im besondern geben wie jene Bündnisperspektive mit einem Land, dem in den letzten dreissig Monaten tausende deutscher Familien ihre Hoffnungen geopfert haben, dem sie noch heute täglich ihre Söhne und Väter opfern müssen. Niemals kann der Widersinn, die Niedertracht, die Frivolität des Kriegs, besonders dieses Kriegs, in solcher Scheinwerferbeleuchtung erscheinen wie in diesen Eintrachts- und Verständigungsbestrebungen der deutschen Russenfreunde mit einem Staat, der uns gestern als die grosse Gefahr geschildert wurde und auch heute noch so geschildert wird.

Wenn man heute diese Verständigung mit Russland als politische Notwendigkeit und Klugheit vorgetragen hört, so muss man sich über den Verzweiflungsmut dieser Männer, die es wagen, solches dem abgeschlachteten deutschen Volk zu bieten, am Kopf fassen. Ist es möglich, dass man so sehr mit der Urteilslosigkeit und der Naivität der Massen zu rechnen wagt?! Fürchtet man denn nicht den Einwand, dass der Zeitpunkt zur Betätigung dieser politischen Klugheit, der Augenblick für die Verständigung mit Russland vor dem 1. August 1914 gegeben war, als es noch möglich gewesen wäre, diesen in Worten und in Gedanken niemals ganz auszudrückenden Jammer zu verhindern. Wo war jene Klugheit und Voraussicht, als das österreichisch-ungarische Ultimatum redigiert wurde, wo, als es sich darum handelte, über die unmittelbare Wirkung jenes Ultimatums zu verhandeln.

Heute, nach diesem Krieg, danken wir jenen Verrätern für den wohlgemeinten Rat, in Zukunft die politische Annäherung im Osten zu suchen!

Warum wünschen diese Leute, das deutsche Volk in diese Allianzpolitik mit dem Osten zu verwickeln? — Weil sie davor erzittern, der Friede, der diesen Krieg beendigt, könnte, wenn er zu einer Annäherung mit den Kulturstaaten des Westens führte, den Krieg überhaupt aus der Welt schaffen. Die Gefahr einer Weltorganisation erscheint jenen Götzenanbetern der Gewalt so riesengross, dass sie das deutsche Volk lieber der Unkultur des Ostens in die Arme werfen wollen, statt ihren Götzen zertrümmert am Boden liegen zu sehen. Diese Leute sehen so aus, als ob sie nach Liebe, Freundschaft und Genossenschaft nur so hungern würden; dabei vermögen sie nicht einzusehen, dass das Wesen ihrer innern Neigung dadurch gekennzeichnet ist, dass sie immer nur gegen jemand sich vereinigen können, dass ihr Hass die Grundlage all ihrer Liebe ist.

Herr Bassermann will die deutsche Politik nach dem Osten dirigieren, in der Erkenntnis, «dass England der Todfeind Deutschlands ist». Ist England heute mehr der Todfeind als es gestern Russland gewesen? Die Liebe zum Osten ist eigentlich nichts anderes als das Eingeständnis, dass unsre an dem Krieg am meisten schuldigen politischen Gruppen ihr Fiasko erkennen und nur von der Sorge nach der nächsten Gelegenheit erfüllt sind, die sie am besten dadurch zu bereiten suchen, indem sie latente Antagonismen zwischen einzelnen Staaten, so jene alten zwischen Russland und England, jene neuen zwischen Japan und den Vereinigten Staaten auszunützen suchen. Abkehr von den Staaten, die eine vernünftige Weltorganisation erstreben, die des Pazifismus verdächtig sind, und Zuwendung zu jenen Staaten, bei denen man noch hoffen kann, die kriegerischen Instinkte zu beleben.

Gelänge diesen skrupellosen Vaterlandsfeinden dieses Manöver, dann kann der deutsche Genius sein Antlitz verhüllen. Deutschland mit Russen, Türken, Ostasiaten in geschlossener Phalanx gegen die pazifistisch-demokratische Staatenwelt der Erde!

Aber Herr Bassermann erstrebt viel Edleres als das, was ich ihm hier zumute. Er will der Welt mit Russland im Bunde die Freiheit geben.

«Gelingt es uns, den Krieg, woran wir nicht zweifeln, siegreich zu beendigen, dann wird allein eine deutsch-russische Annäherung vor der englischen Welttyrannei befreien und die Freiheit der Meere bringen.»

Ja, die Freiheit der Meere wohl, die Freiheit für Hai- und Wallfische und für Unterseeboote, Torpedos und Minen, die Freiheit der Seekanone, wie wird es ober auf dem festen Land mit der Freiheit aussehen?

Herr Bassermann ist kein politischer Kopf. Sonst hätte er schon aus Rücksicht auf Deutschlands Bundesgenossen, auf Oesterreich-Ungarn sowohl, wie auf die Türkei diesen politischen Plan nicht enthüllt. Er hätte sich die Frage vorlegen müssen, wie man denn in diesen Ländern über diese Neuorientierung denkt, die nichts Geringeres im Auge hat, als eine enge Verbindung mit einem Gegner, den man als lebenbedrohend ansieht. Er hätte auch nicht jenen Satz schreiben sollen, der Russland gegen England misstrauisch machen soll, da es leicht passieren könnte, dass den Bundesgenossen Deutschlands, dass Oesterreich-Ungarn und der Türkei von irgend einer Seite das selbe Misstrauen gegen Deutschland eingeflösst werden könnte. Dieser famose Satz lautet:

«In Russland nimmt das Unbehagen über die von England angemasste Kontrolle der russischen Verwaltung, des russischen Handels und der Produktion, über die wirtschaftliche Herrschaft Englands über Russland, die in immer grossem Umfang Land, Bodenschätze, Fabriken in englischen Besitz bringt und Russland zur englischen Kolonie erniedrigt, ständig zu.»

Wie empört wäre Herr Bassermann, wenn etwa ein Engländer das Verhältnis Österreich-Ungarns und der Türkei zu Deutschland so schildern würde!

Da es klar ist, dass diese Leute keine politischen Köpfe sind, sondern nur vom Machtrausch ergriffene Unzurechnungsfähige, besteht die Hoffnung, dass ihre politischen Pläne ins Nichts zerstieben, dass sie sich ebenso als Täuschung erweisen werden, wie dieser Krieg ihnen eine wird. Aber hoffentlich unter geringeren Opfern als es bei dieser ad absurdum-Führung der Fall war.