Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 18. April.

Aus Wien höre ich, dass der Erzbischof Piffl Anfang April eine Wallfahrt nach Mariazell veranstaltet hat, an der gegen 500 Personen aus den besten Kreisen der Gesellschaft teilgenommen haben, darunter fünfzehn Mitglieder des Kaiserhauses. Die Wallfahrt galt einer Bitte um Frieden. - - - -

* * *

König Alfons von Spanien hat sich telegraphisch an alle Oberhäupter der kriegführenden Staaten gewandt mit dem Ersuchen, zu prüfen, ob nicht zwischen den Kriegführenden ein Übereinkommen möglich sei, wonach Militärambulanzen und Rot-Kreuz-Mitglieder, die auf den Schlachtfeldern liegen gebliebenen Verwundeten zu geeigneter Stunde wegholen könnten. Und — so schliesst die Meldung — «Alle Staaten zeigten sich geneigt, den Vorschlag zu erwägen». Wie nett! In der «Neuen Freien Presse» ist ein Schmock ganz gerührt darob! Man denke, die Staaten haben dem König Alfons keine lange Nase gedreht oder gar die Zunge hinausgestreckt (wenn man annimmt, dass Staaten «geneigt» sein können, muss man auch annehmen dürfen, dass sie Grimassen schneiden können), sondern sie haben sich bereit erklärt, zu «erwägen». Ist das nicht etwas Rührendes! Seit 21 Monaten krepiert die Hoffnung Europas auf endlosen Schlachtfeldern, und endlich erklärt man sich bereit, eine Verbesserung der Verwundetenfürsorge zu «erwägen». Und da soll noch einer behaupten, dass wir keine Bestien sind. Jene aber, die die «Erwägung» zugesagt haben, wissen übrigens schon jetzt ganz genau, dass dieser menschenfreundliche Vorschlag gar nicht durchführbar ist, worin übrigens ihre einzige Entschuldigung für die Verspätung des Einfalls liegt. Denn es wäre doch furchtbar, dass man Millionen Verwundete bis jetzt hilflos hätte verkommen lassen, wenn es dennoch möglich gewesen wäre, sie zu retten. Es wäre nur korrekt gewesen, wenn sie den Vorschlag des Königs offenherzig zurückgewiesen hätten. Durch ihre Zustimmung beschuldigen sie sich in grässlicher Weise einer Unterlassung. Daran wird nun nichts geändert werden, wenn sie selbst zu einem Abkommen gelangen sollten, das als Schönheitspflästerchen zur Vertünchung des Elends dienen wird. Ein Schönheitspflästerchen mehr, eine Lüge mehr zur Übertünchung des Krieges! Darauf kommt’s nicht mehr an. Aber die «Gutgesinnten» werden sich damit zufrieden geben und werden sich einreden, wie menschlich doch die Menschen sind.

* * *

Die Apachen des Burgfriedens sind rüstig an der Arbeit. Sie haben dabei allen Sinn für Recht und Sitte verloren.

Da brachte die «Kreuz-Zeitung» am 6. April unter dem Titel «Herr Fried, bei der Verleumdungsarbeit» einen Artikel, in dem Folgendes gesagt wird:

«Der bekannte ,Pazifist’ Herr Fried, der seine Friedenswarte nun in Zürich aufgebaut hat, lässt keine Gelegenheit vorübergehen, um Deutschland und Österreich-Ungarn zu verleumden, wobei er ja seiner alten Tradition vor dem Kriege, unsern Gegnern Material zu ihrer Hetze zu liefern, nur treu bleibt. Die neueste Leistung dieses Herrn besteht nun darin, in seinem ,Tagebuch’ dem Leser das unglückliche Los der gefangenen Engländer bei uns vorzuführen. Es soll da einen gefangenen Engländer geben, einen Mr. H., der vorher ein Freund Deutschlands war, jetzt aber das ,Hassen Deutschlands’ gelernt habe. Seine Behandlung in Deutschland war eine derartige, dass er fürchtete, verrückt zu werden, und ein Freund von ihm, der ebenfalls gefangen gehalten wird, sei seit Kriegsausbruch schon um zehn Jahre gealtert ... Herr Fried schliesst hieraus, dass die Behandlung der Engländer bei uns so grauenhaft sei, dass die unglücklichen Opfer irrsinnig würden».

Diesem Angriff liegt der Fall zugrunde, den ich hier unterm 6. Februar beschrieben habe. Wer die Stelle durchliest, wird sehen, dass es sich dabei keinswegs um eine Verallgemeinerung handelt, sondern lediglich um die Wiedergabe der Klage über einen einzelnen Fall, über das Schicksal eines Mannes, der «seiner ganzen Veranlagung nach» unter den Verhältnissen besonders zu leiden hat; was ja jeder vernünftige Mensch einsehen wird, der nicht, von der Kriegspsychose völlig umnachtet, eine monatelange Gefangenschaft als das höchste irdische Glück betrachtet.

Es ist also eine Verleumdung der Kreuzzeitung, wenn sie ihren Lesern erzählt, dass ich es mir zur Aufgabe mache, «das unglückliche Los der gefangenen Engländer bei uns vorzuführen», eine Verleumdung unerhörtester Art, wenn behauptet wird, «ich schliesse hieraus, dass die Behandlung der Engländer bei uns so grauenhaft sei (!!), dass die unglücklichen Opfer irrsinnig wurden».

Durch die Wiedergabe jenes Briefes, der nur einer der vielen Schmerzensschreie ist, die in dieser Zeit an mich gerichtet wurden, habe ich den angedeuteten Schluss keineswegs gezogen, denn nicht ich, sondern die Schreiberin jenes Briefes vermutet, dass einige der Internierten wahnsinnig werden, wozu sie berechtigt ist, da ja bekanntlich in allen Gefängnissen Leute irrsinnig werden. Der Schwerpunkt der Klage liegt aber gar nicht in irgend einer Beschuldigung seitens der Schreiberin, sondern in der Frage, ob keine Möglichkeiten gegeben sind, die bedauernswerten Opfer der Internierung (und bedauernswert sind sie doch unter allen Umständen!) diesem unverdienten Schicksal zu entreissen.

Und ohne dass ich selbst einen Schluss über die Behandlung der Engländer ziehe, verurteile ich das System der Internierung, nicht bloss das in Deutschland geübte, sondern die Internierung überhaupt, als ein Ausfluss des Krieges, als eine Folge der durch den Krieg entfachten Hassgefühle.

Das ist etwas ganz Anderes als die «Kreuz-Zeitung» schreibt. Sie verleumdet, sie lügt schamlos und begeht die Verruchtheit, mich auf Grund ihrer Lüge als Verleumder zu kennzeichnen.

In der Annahme, dass ich es mit Männern zu tun haben könnte, die auch im Gegner den Menschen achten, und die vielleicht unschuldig von einem gutgesinnten Zeilenschmierer betrogen worden sind, wandte ich mich, unter Beifügung des Originals meiner Tagebuchnotiz vom 6. Februar an den Hauptredakteur der «Kreuzzeitung», mit der Behauptung, dass mir der Vorwurf der Verleumdung zu Unrecht gemacht worden und mit dem Ausdruck der Hoffnung, dass es genügt «Sie darauf aufmerksam zu machen, und Sie von selbst wissen werden, was Sie zu tun haben». Ich erwähnte noch: «Sie brauchen mit mir natürlich nicht übereinzustimmen. Das kann man von politischen Gegnern nicht einmal in der Zeit des Burgfriedens verlangen. Aber Sie werden doch ohne weiteres zugeben, dass mir der Vorwurf der Verleumdung zu Unrecht gemacht wurde».

Darin habe ich mich getäuscht.

Die «Kreuzzeitung» veröffentlicht zwar den Hauptteil meiner Berichtigung, aber nicht, um ihr Unrecht einzugestehen, sondern um ihren Angriff zu rechtfertigen. Schon die Überschrift, unter der sie die Berichtigung veröffentlicht! Diese lautet — man höre: «Herr Dr. Fried will kein Verleumder sein (!)». Zum Schluss findet sie es «erstaunlich», «dass ein Mann, der gegen unsere Behörden derartige Verunglimpfungen richtet, noch den Mut hat, sich gegen den Vorwurf der Verleumdung zu wahren».

Ich habe dem nur hinzuzufügen: Die edle Redaktion, die den Vorwurf der Verleumdung gegen mich gerichtet hat, ohne den Text überhaupt gesehen zu haben, auf den sie ihre Schmähung begründet, die, nachdem ihr dieser Text bekannt geworden, durch talmudische Verdrehungen ihre ursprüngliche Behauptung aufrecht zu erhalten sucht, weiss ganz genau, dass sie durch den Burgfrieden vor einer gerichtlichen Verfolgung geschützt ist. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als den Tatbestand hier festzuhalten und ihn der Beurteilung vernünftiger Menschen zu überlassen.

Das ist aber noch nicht alles.

Der Artikel der «Kreuzzeitung» ging in gleichem Wortlaut und ohne Quellenangabe, so dass der Leser der Meinung sein muss, er habe es mit einer selbständigen und wohlbegründeten Äusserung der jeweiligen Schriftleitung zu tun, in eine Anzahl anderer Blätter über. Es liegen mir die Ausschnitte der «Deutschen Tageszeitung», der «Schlesischen Zeitung», der «Hamburger Nachrichten», vor, und es ist zu vermuten, dass sämtliche Organe dieses Kalibers den verleumderischen Artikel der «Kreuzzeitung» übernommen haben dürften, ohne jemals die «Friedens-Warte» gesehen zu haben. Sie verleumdeten ohne Prüfung. Solche Vorsicht hat man auch in der «grossen Zeit» nicht nötig. Sie drucken alle — vertrauensselig eine für die andere — die Eingangsfloskel des verleumderischen Kreuzzeitungsartikels ab, wonach ich keine Gelegenheit vorübergehen lasse, Deutschland und Österreich-Ungarn zu verleumden, «wobei er ja seiner alten Tradition vor dem Krieg, unsern Gegnern Material zu ihrer Hetze zu liefern, nur treu bleibt». Jeder dieser Redakteure käme in Verlegenheit, wenn man ihn um Beweis für diese Behauptung angehen wollte. Aber er vertraut auf seine Fähigkeit, im Notfall die erste Verleumdung durch weitere Verleumdungen und Lügen überbieten zu können. — In dem «perfiden» England würde jeder dieser Schreiber mit schweren Strafen belegt werden. Englische Gerichte verurteilen verleumdende Zeitungen mit Strafen bis zu einer Million Mark. Dort geht aber auch die Presse mit der Ehre ihrer Mitmenschen, selbst wenn es sich um politische Gegner handelt, anders um, als in der Zeit des Burgfriedens in Deutschland, wo das Leben für gewisse «Übermenschen» so wunderschön und leicht ist.