Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 19. Januar.

Wenn es ein Messinstrument gäbe, das den Stand der psychischen Erschütterungen anzuzeigen vermöchte, so würden wir für den Augenblick ein furchtbar verzacktes Diagramm zu Gesicht bekommen. Wir durchleben jetzt die Krise, aus der entweder das Ende des Schreckens oder die Schrecken des Endes hervorgehen werden, die furchtbaren Schrecken eines von der Daseinspanik der grossen Völker erfüllten Endkampfs.

In Deutschland scheinen einzelne Leute infolge der Entente-Note an Wilson den Kopf verloren zu haben. Was man an Schmähungen der Entente-Staatsmänner in öffentlichen Äusserungen zu hören bekommt, übersteigt das zulässige Mass, vor allem jenes Mass, dessen Innehaltung die Zuversicht und Überlegenheit verrät. Auf die Wirkung dieser Äusserungen scheint man nicht das nötige Gewicht zu legen. Man übersieht, dass man solche Zornesausbrüche, solche Merkmale innerer Unruhe weniger als Zuversicht und Kampfentschlossenheit, denn als Panikstimmung auffasst. Was sollen Äusserungen wie der Brief des Landrats Dr. Richard Freund im «Berliner Tagblatt» (vom 17. Januar), in der die Geschichte Englands «als eine Kette von Verbrechen», die führenden Staatsmänner der Entente als «ganz gesunde Schurken», als «Gesindel», bezeichnet werden, und worin empfohlen wird, ihnen «Fußtritte mit Kürassierstiefeln » zu versetzen. In solcher Stimmung wird kein Frieden gemacht. In einem ausgezeichneten Aufsatz hat Professor Förster gestern in der «Neuen Zürcher Zeitung» (Nr. 98 vom 18.Januar «Eine Betrachtung zur Weltlage») wieder darauf hingewiesen, «dass der Friede sein eigenes Zeremoniell’, seinen eigenen Stil, seine eigene Sprache hat und nicht im Kriegston vorbereitet und geschlossen werden kann.» Wie weit ist alles, was wir lesen, von dieser Erkenntnis entfernt.

Man glaubt, dass man durch weniger Heftigkeit den Glauben an die Durchhaltung bei den Feinden erschüttern könnte. Man denkt auch hier wenig psychologisch. Der Feind, der stets nur zu sehr geneigt ist, in den Äusserungen des Gegners einen Bluff zu sehen, ist nur zu geneigt, das Gegenteil dessen anzunehmen, was man ihm glaubhaft machen will.

Vielmehr setzt sich der Gegner aus Äusserungen ein Bild zusammen, das nicht für ihn bestimmt ist. So aus der Etatrede des preußischen Finanzministers Dr. Lentze in der Sitzung vom 16. Januar. Diese Rede erfüllt mit Gefühlen verschiedener Art:

«Aus allen diesen Darlegungen ist zu ersehen, dass der Krieg in sehr starkem Masstab auf unsere Staatswirtschaft eingewirkt und grosse Anforderungen gestellt hat. — Wenn wir auch die Einnahmen und Ausgaben im Haushaltsplan ins Gleichgewicht bringen konnten, so doch nur äußerlich, da eine grosse Zahl notwendiger Ausgabe aus Mangel an Mitteln zurückgestellt werden musste. Auch nach dem Krieg werden wir dabei bleiben müssen, dass unsere Staatswirtschaft nach wesentlich engeren und sparsameren Gesichtspunkten geführt werden muss als vor dem Krieg. Wir sind nicht mehr reich genug, um anders zu verfahren. Schon die Höhe der öffentlichen Lasten, welche der Krieg zur Folge haben wird, wird dies verbieten. Hiermit müssen wir uns vertraut machen und abfinden, es geht nicht anders. Die Hauptsache ist aber heute, dass wir den Krieg gewinnen. Die Absperrung vom Ausland macht sich überall fühlbar, und es ist nicht zu bestreiten, dass sie schwer auf dem ganzen Land lastet. Aber dies muss ertragen werden. Die Eingriffe in die Wirtschaft des einzelnen, die Ernährungsschwierigkeiten und die Teuerung sind gewiss groß. Und die Sorgen jedes einzelnen, besonders wenn er nur ein kleines Vermögen besitzt, oder gar eine grosse Familie ernähren muss, sind ganz gewiss bitter und schwer. Aber was will das sagen gegenüber der Zukunft unsres Volks. Die Sorgen des einzelnen wiegen federleicht gegenüber dem Schicksal, das unserm Vaterland bevorstehen würde, wenn unsre Feinde ihren Willen durchsetzen und Sieger bleiben würden. Dann wäre unsre Freiheit rettungslos dahin, und erbarmungslose Feinde würden rücksichtslos alles für sich in Anspruch nehmen. Arbeitslosigkeit, Not und Elend wären unser Los für alle Zukunft. Wenn wir uns dies vorstellen, schrumpfen alle Sorgen zusammen, erscheinen sie leicht und erträglich gegenüber einem so furchtbaren Schicksal. Heute muss jeder die Zähne zusammenbeissen und alle Entbehrungen und Schwierigkeiten ertragen, jeder muss helfen, sonst können wir den Krieg nicht gewinnen.»

Wenn man diese Darlegungen liest, muss man immer wieder und mit erhöhtem Nachdruck die Frage stellen: Und um all dies zu vermeiden, konnte man die Frist von 12 Stunden nicht verlängern, musste man nicht versuchen, soviel Zeit wie nur möglich zu gewinnen, um vorzubeugen, solange nur ein Schimmer von Möglichkeit war? — Und man muss die weitere Frage stellen, ob man sehenden Auges ein System aufrechterhalten, ja es als das einzig beste («scharf geschliffenes Schwert, trocken gehaltenes Pulver») hartnäckig preisen durfte, das uns dahin bringen konnte, im Verlauf von zwölf Stunden unsern Reichtum zu vernichten, und Hunger und Sorge, Arbeitslosigkeit, Not und Elend über die Völker zu bringen. Es geht nicht mit «Bewegung und Beifall» allein, es muss die Verurteilung dieses Systems folgen und der Wille zur Abkehr bekundet werden.

Statt dessen merken wir nur Verblendung, die aufschreien lässt vor der Vernichtung, mit der sie uns bedroht. In einer neuen Flugschrift des von einem Professor Schäfer geleiteten «Unabhängigen Ausschusses» werden «neue Kriegsziele» aufgestellt. Darin wird verlangt

«die Beteiligung Amerikas an etwaigen Friedensverhandlungen unbedingt zurückzuweisen. Ebenso sei auch | jede vertragsmäßige Verpflichtung der Teilnahmen einer später zu bildenden Staatengemeinschaft mit dem Zweck allgemeiner Friedenssicherung von vornherein abzulehnen. Deutschlands geographische Lage gestatte es ihm nicht, ernstlich auf Abrüstung vereinbarungen und unbedingt bindende völkerrechtliche Schiedsgerichte einzugehen.»

Wenn das Hochverräterische, wenn das Staat- und Volkmordende in solchen Ansichten und Kundgebungen nicht bald erkannt wird, ist es zu spät. Menschen, die in dieser Weise freveln, haben das deutsche Volk in der ganzen Welt verhasst gemacht und liessen es als bedrohlich für alle andern erscheinen. Menschen, die angesichts der von der Entente ausgegebenen Parole, der die gesamte Welt ihre Sympathien zuweist, den Krieg mit dem Ziel zu führen, die Weltorganisation zu begründen, noch die Verrücktheit besitzen, Deutschland so hinzustellen, als ob es das Prinzip der Gewalt für alle Zeiten und einer Welt zum Trotz aufrecht erhalten wollte, sind Schädlinge, von denen sich das deutsche Volk befreien muss.

In dem selben Augenblick, in dem das Gift dieses besessenen Professors ausgespreizt wird, erscheint das Dokument des konservativen englischen Minister des Äussern Balfour, das dazu bestimmt ist, die Entente-Note an Wilson zu erklären. Darin steht eine Stelle, die zwar von Deutschland in seiner Gesamtheit spricht, aber sich wohl nur auf Leute vom Schlag des Professors Schäfer bezieht, und aus der ersichtlich ist, wie das Gerede dieser Leute den Friedensschluss verhindert. Diese Stelle lautet:

«Während die andern Nationen, so die Vereinigten Staaten von Amerika und Grossbritannien, sich Mühe gaben, mittels Schiedsgerichte jede Störung des Friedens zu verhindern, stand Deutschland abseits. Seine Philosophen und Historiker predigten die Herrlichkeit des Kriegs und des allmächtigen Staats.»

Man könnte sich vielleicht fragen, ob dieser Kommentar Balfours mit der Aufstellung von «drei Bedingungen» für den Frieden, die entschieden milder und vernünftiger klingen als die «Kriegsziele» in der Entente-Note, nicht die Bedeutung hat, die Fortführung des Gesprächs zu ermöglichen.