Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Locarno, 23. März.

Man soll dem Militarismus nicht nachsagen, dass er keinen Sinn für Poesie hat. Am kalendermäßig ersten Frühlingstag hat das große Morden im Westen eingesetzt.

Wer eigentlich begonnen hat, kann augenblicklich nicht festgestellt werden. Die ersten deutschen Berichte melden nur, dass der große Artilleriekampf im Westen «entbrannt» sei. Das ist eine im Stil der Militärs beliebte Anonymisierung. «Entbrannt» wie eine Naturkatastrophe. Aber einerlei, sie ist da. Der Frühlingstag von 1918 bringt den Tod von hunderttausenden hoffnungsvoller Menschenleben. Die wärmende Frühlingssonne wird Felder menschlicher Kadaver bestrahlen. Sie ist da, die von Hindenburg komponierte Symphonie des Endkampfes.

Triumphierend meldet der deutsche Bericht, dass auch Österreichisch-ungarische Artillerie an den Kämpfen gegen Engländer und Franzosen teilnehmen. Welcher Triumph klingt aus dieser Meldung der deutschen Politiker, die Malefiz-Österreicher, die von den Westvölkern noch immer nicht gehasst wurden, in den Siedekessel der eignen Isolierung mit hineingezogen zu haben. Aber es wird nichts mißen! Außer einigen alldeutschen Narren stehen hierbei die Völker Österreich-Ungarns nicht auf Seite ihrer Regierung, wenn sie ihre Söhne aus dem sogenannten Verteidigungskrieg jetzt hinaushetzt in den Höllenschlund der mörderischen Eroberungsoffensive des Westens. Es wird nichts nützen! Die Völker werden die sie beschwindelnden Diplomaten, die sich ihnen in Pazifistenallürcn verkleidet zeigten, zum Teufel jagen und werden sich auflehnen gegen jene preußisch-deutsche Gewaltherrschaft, die dem Bundesgenossen auferlcgt wird, ärger als einem besiegten Volk.

In Österreich rast jetzt der reichsdeutsche See. Die Hetze gegen Lammasch, der gegen den Siegfrieden sprach und gegen eine Weiterführung des Kriegs im Dienste der Alldeutschen im Reich, sagt genug. Auch dieser Ehrenmann, auf den Österreich stolz sein konnte, auf den es stolz war, wird jetzt auf reichsdeutschen Befehl hin diskreditiert. Die ganze Presse ist gegen ihn losgelassen, und der schwerterklirrende Historiker Friedjung wurde gegen ihn zum Angriff vorgeschickt. Dieser Mann des Friedens und der Wahrheit soll ebenso stigmatisiert werden wie die Lichnowskys, die Muehlons, die Foersters und tutti quanti. Die ganze geistige Elite in Deutschland und in Österreich-Ungarn, die nicht dienstbeflissen und kriecherisch diesen Kriegsschwindel mitmacht, die Kritik übt und zur Vernunft mahnt, all die wahren Patrioten werden von Berlin aus in Acht und Bann getan. Merk’s Wien!