Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Lugano, 5. April.

Staatssekretär v. Jagow hat in einer Unterredung mit Karl v. Wiegand nach dem Bericht amerikanischer Zeitungen auf die Grey-Rede Bezug genommen. Just in dem Sinn, wie es der «Manchester Guardian» als Befürchtung ausgesprochen hat. «Wir wissen es nun aus Greys eignem Mund: England geht darauf aus, Deutschland niederzuschlagen und zu vernichten. — Es war ein offenes Eingeständnis.» — War es das? Hat Grey es wirklich so gemeint? Liegen da nicht durch die Verhältnisse bedingte Missverständnisse vor? Darf man überhaupt die unter der wechselseitigen Erbitterung eines mörderischen Kriegs getanen Äusserungen stets auf die Wagschale legen? Gewiss nicht! Man sollte überhaupt nicht sprechen, weil unter der jetzigen Psyche jedes Wort verbittert herauskommen und verbittert verstanden werden muss. Am allerwenigsten sollten die Staatsmänner es tun. Und was für Zweck hat das gegenseitige Vorwerfen der vergangnen Geschichte, der vergangnen Politik? Es hat kein Land das Recht, dem andern hierüber Vorwürfe zu machen. Ein jedes hat sein volles Mass dazu beigetragen, die Weltanarchie zu vertiefen.

Alle diese während des Kriegs geäusserten Ansichten über das Recht des eignen Volks und das Unrecht des andern, alle die vorgebrachten Beschuldigungen und Entschuldigungen leiden an dem Fehler, dass sie für unumstösslich wohlbegründete Urteile genommen werden wollen, und doch nur Plaidoyers von einer Seite her sind. Im gewöhnlichen Leben hat das Plaidoyer nur die Aufgabe, die für oder gegen einen Fall sprechenden Momente zu sammeln, darzulegen und von seinem einseitigen Standpunkt aus zu deuten. Jeder, der ein Plaidoyer führt, ist sich der Einseitigkeit seiner Argumente auch bewusst. Er weiss, dass seinen Darlegungen die diametral entgegengesetzten des Gegners gegenüberstehen, und dass die Wahrheit erst aus dem Vergleich beider Darlegungen gefunden werden soll, woraus das Urteil erwächst. Dies Bewusstsein fehlt den Plaidierenden im Krieg; und daraus klafft die breite Kluft zwischen den sich gegenüberstehenden Anschauungen, die keine Brücke erhoffen lässt.

Wären sich Sir Edward Grey und v. Jagow und die Millionen der hinter ihnen Stehenden dieser Eigenart ihrer Ausführungen bewusst, so könnte sich Gutes daraus ergeben. Sie sind nicht unversöhnbar. Sir Grey weiss, dass Deutschland nicht vernichtet werden kann, v. Jagow, dass es nicht in Englands Absicht liegt, dieses Ziel zu erreichen. Wie traurig, dass sich dennoch die Kluft über den Zwist zweier Völker nicht schliessen soll, ehe sie durch Leichen und Trümmer ausgefüllt worden ist.

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Gestern und heute das Osterfest. Ein tiefblauer Himmel bedeckt die sonnige Landschaft. Fröhliche und geputzte Menschen durchziehen den Ort. Es hat den Anschein, dass nichts den Lauf der Welt störe. Doch nur den Anschein. Es fehlen die fremden Sonnensucher, die sonst diese Gegend zu Tausenden bevölkern. Nur einige Wenige sind hiehergekommen. Die sonst um diese Zeit überfüllten Hotels stehen leer. Und drüben das andre Ufer des Sees, das ich von meinen Fenstern aus erblicke, gehört zu Italien, dessen Boden der Deutsche nicht zu betreten wagt, weil er innerhalb weniger Stunden sich zum Feindesland wandeln kann. So wird man der lachenden Landschaft nicht froh. Man muss daran denken, dass wohl auch jene Gegenden einmal im Frühlingsschein so lachend ausgesehen haben, auf deren Fluren jetzt die Furie des Kriegs tobt. Die stille Hoffnung, die wir zu Weihnachten gehegt, dass die Osterglocken das Ende der europäischen Katastrophe einläuten würden, hat sich nicht erfüllt. Die Blutarbeit geht weiter.