Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Locarno, 28. März.

Sachlicher ist die Entgegnung abgefasst die der frühere Staatssekretär von Jagow unterm 20. März von München aus veröffentlicht. Auch Jagow verfolgt jedoch die Taktik aller Verteidiger der deutschen Unschuld am Krieg, dass er zu weit in die Vergangenheit schweift und die kritischen elf Tage, während welcher es darauf ankam, den Frieden zu retten, nur im Flug berührt. Die Argumente, die er zu dieser wichtigen Periode der Menschheitsgeschichte anführt, sind weder neu noch überzeugend. Dass man der Botschafterkonferenz, die Grey wollte, nicht zustimmen konnte, weil sie «zweifellos zu einer ernsten diplomatischen Niederlage geführt hätten», beweist nur wie falsch jene von Deutschland geführte Politik und wie gering der Friedenswille ihrer Leiter war. Denn wenn die Möglichkeit einer Niederlage ausschlaggebend sein soll für die Anwendung einer friedlichen Methode zur Konfliktbeilegung, dann hört eben jede Friedensaktion auf. Die deutsche Staatsmannskunst scheint auf dem Standpunkt gestanden zu haben: Friedensmittel ja, wenn ihr meinen Standpunkt akzeptiert; sonst nicht. Das hat aber mit friedlicher Konfliktlösung nichts zu tun, das ist Gewaltpolitik, Anwendung der Gewalt um jeden Preis, die notgedrungen Gegengewaltmaßnahmen hervorrufen muss. Das beweist auch der naive Schluss, den der verantwortliche Staatsmann einer so ernsthaften Periode zieht, indem er behauptet, der beste und einzige Ausweg war eine Lokalisierung des Konflikts und eine Verständigung zwischen Wien und Petersburg. Das dies eben kein Ausweg, sondern eine Fiktion war, beweist der seit vier Jahren infolge dieser fixen Idee fließende Blutstrom. Eine solche Lokalisierung war eben in dem Europa von 1914 nicht mehr möglich! Es ist bedauerlich, dass auch Herr von Jagow den Prinzen Lichnowsky mit dem Hinweis auf den Suchomlinowprozess zu widerlegen sucht. Das nimmt seiner Argumentation jeden Wert. Im übrigen spricht aus ihr das Bestreben, einige Irrtümer des Prinzen als Beweis der Unrichtigkeit des Ganzen auszunützen und die eignen Handlungen mit den bereits zur Genüge bekannten Redensarten zu rechtfertigen.

Es nützt alles nichts! Vielleicht wird man den Kriegsmachern von 1914 mildernde Umstände zubilligen, da sie die Gefahr nicht zu begreifen vermochten, der Schuld sind sie nicht zu entheben.

Je mehr man sich in diese diplomatische Beweisführung à la Jagow vertieft, umsomehr erkennt man, dass diese ganze hohe Politik nichts anderes ist als ein eigentliches Nebenher der Menschheit, das diese gar nichts angeht, das gar nicht vorhanden wäre, wenn es nicht eine Schar von Menschen gäbe, die dieses wechselseitige Anrempeln zum Beruf erkoren hätte. Diese anscheinenden Wichtigkeiten mit ihren so tiefsinnig sich gebenden Schlagworten sind doch nur etwas vom Leben ganz unabhängiges, aber gewaltig störend in es hineingreifendes. Neben der produktiven Arbeit und dem Austausch der Arbeitsprodukte nimmt dieses Gehabe und Getue die Stelle eines Sports, einer durch Tradition geheiligten Liebhaberei ein, die das Leben einer Kaste ausfüllt auf Kosten des Lebens und der Lebensvollwertigkeit der großen Menschheitsmasse. Es gibt Räuber, die uns unsre Schränke ausrauben und so den Wert unsrer Arbeit beschränken, es gibt aber auch Räuber, die die Welt mit falschen Ideen und Fiktionen erfüllen und unter dem Dunst dieser geistigen Verschrobenheit Generationen um ihr Leben und den Wert ihrer Arbeit betrügen.