Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 2. November.

Avenarius, dem ich meine Broschüre über den grundsätzlichen Pazifismus übersandt habe, dankt mir und fügt hinzu: «In der Behandlung der pazifistischen Fragen sind wir allerdings nach wie vor aufs äußerste dadurch beengt, dass jede irgendwie nach Friedenswunsch klingende deutsche Ausführung in Frankreich und England mit Triumph als ein Beweis deutscher Schwäche missverstanden oder absichtlich missdeutet wird».

Welch vielfacher Irrtum! Zunächst hat der Pazifismus mit Friedenswunsch, d. h. mit der Beendigung dieses Kriegs nichts zu tun. Der Pazifismus als Lehre von der Organisation der Staaten zum Zweck der Vermeidung gewaltsamer Erledigung zwischenstaatlicher Streitfälle will die Zukunft zimmern, damit eine Wiederholung des gegenwärtigen Unglücks vermieden werden kann. Er ist Prophylaxis, nicht Therapie. Zu dem gegenwärtigen Krieg sieht er in keinem andern Verhältnis wie etwa die Hygiene zur Bekämpfung einer akuten Typhusepidemie. Sie wird dabei gar keine Rolle spielen, aber aus dem Vorfall ihre Lehren zu ziehen suchen, das Trinkwasser prüfen, die Mängel an Kanalisation feststellen, die Wohnverhältnisse untersuchen und ihre, auf Grund dieser Untersuchungen aufgestellten Forderungen, zwecks Vermeidung der Wiederholung solcher Epidemien zur Geltung bringen. Das ist die Stellung des Pazifismus zum gegenwärtigen Krieg. Wenn man den Pazifismus doch noch immer bekämpft, so rührt dies aus dem mangelnden Verständnis her, das man in Deutschland dieser Bewegung seit jeher entgegengebracht hat. Es ist die Furcht vor dem Wort «Friede», die soweit geht, dass man die Sache gar nicht näher prüft, die durch dieses, viele Begriffe deckende Wort bezeichnet ist. Aber es ist auch böses Gewissen. Man fürchtet, dass die Erörterungen über die Prophylaxis künftiger Kriege das Denken in die Vergangenheit leiten und bei vielen die unbequeme Frage erwecken könnte, warum diese vernünftigen Lehren nicht schon vor diesem Krieg zur Anwendung kamen. Die Antwort auf diese Frage brächte Viele in Verlegenheit. Aber, wie immer, wird auch hier bei der Anwendung eines falschen Mittels das Gegenteil dessen erreicht, das man erreichen will. Die Verbannung des Pazifismus aus der öffentlichen Erörterung macht die Bewegung gross und stark und führt ihr Millionen Anhänger zu.

Nehmen wir jedoch an, dass Pazifismus wirklich Friedenswunsch wäre, oder dass die Erörterung darüber dahin führen könnte, Friedenswünsche zu äussern. Wen will man denn täuschen? Wer in aller Welt würde sich durch die volle Ertötung aller Friedenswünsche zu dem kindischen Glauben versteigen, das deutsche Volk oder irgendein Volk der Welt sehne sich nach 2 1/4 Jahren dieser, Krieg genannten, Hölle, nach einer möglichst langen Fortsetzung des gegenwärtigen Zustandes? Wer kann sich solch naiven Ideen hingeben? Die Regierungen der mit Deutschland im Krieg befindlichen Länder wissen genau, dass die kriegslustige Miene in offiziellen Reden und Leitartikeln nur Parade ist. Sie wissen es aus eigener Erfahrung; deshalb werden sie Friedenswünsche eines Gegners vielleicht dem eignen Volk als Schwäche jener darzustellen versuchen, aber damit gerade das Gegenteil dessen erzielen, das sie bewirken wollen. Der Friedenswunsch im eigenen Land wird zur Flamme entfacht werden. Es ist ein Unding, zu glauben, man könne den Friedenswillen heute noch verbergen, ebenso wie es ein Unding ist, zu meinen, man müsse seine Äusserung als Schwäche auslegen. Selbst wenn dem so wäre; wäre man dadurch auch wirklich schwach? Lässt nicht eher der Wunsch, nicht als schwach zu erscheinen, den Verdacht aufkommen, dass man es sei? Das unentwegte Reden vom Frieden erschiene eher als der Beweis einer überlegenen Stärke, die es sich eben leisten kann, missverstanden zu werden. — Unzählige Fragen dieser Art erheben sich. Am wichtigsten erscheint mir aber doch noch diese: Wie stellt man sich denn vor, jemals den Krieg zu beendigen, wenn man das Reden vom Frieden stigmatisiert? Glaubt man, die andern werden dann diesen Makel auf sich nehmen wollen, wenn wir fortfahren, ihn immer fester um den Begriff zu wickeln? Wenn jene wissen, dass wir jeden Friedenswunsch als Schwäche deuten, wie können wir erwarten, dass sie zu uns reden werden?

Das deutsche Volk hat sich nicht darum gekümmert, ob die Mängel seiner Ernährung als Schwäche ausgelegt werden, es hat offen die Organisationen geschaffen, die die Not bekundeten. Und dies alles, trotzdem die Gegner ja hauptsächlich mit dieser Not rechnen und jedes Anzeichen von Schwäche als Siegeschance buchen. Warum soll es sich nun so ängstlich hüten, von Frieden zu reden?

Diese Keuschheit des Denkens, gerade diese Zurückhaltung ist eine Gefahr, die zu überwinden im Interesse des deutschen Volks liegt.