Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Wengen, 26. Juli.

Wir sind wieder in der Jährung der zwölf historischen Tage drin, die am 23. Juli 1914 mit der Überreichung des österreichisch-ungarischen Ultimatums an Serbien begann. Die dritte Jährung!

Das Ereignis des Augenblicks ist der Zusammenbruch der russischen Offensive und das Zurückweichen der völlig undisziplinierten Regimenter. Österreich-Ungarn und Deutschland rücken unaufhaltsam vor und erobern Gebiete zurück, die seit Kriegsbeginn in russischem Besitz sind. In Petersburg wird es der Regierung schwer, sich zu behaupten und die durch die revolutionären Ultras erzeugte Anarchie einzudämmen. Tagelang schossen die Truppen in der Hauptstadt gegeneinander.

Die demokratische Auferstehung Russlands scheint seinen militärischen Zusammenbruch besiegelt zu haben. Die wahre Demokratie, wie sie in Russland ohne Übergang den Druck der zaristischen Autokratie abgelöst hat, taugt nicht für Kriege. Um die Regimenter zur Todesopferung in die modernen Kriegsmaschinen hineintreiben zu können, gehört entweder das Verständnis und daraus sich ergebend, die sittliche Begeisterung für eine Idee oder der eiserne Zwang zum Kadavergehorsam. Dieser Zwang ist durch die Revolution zerbrochen, die Idee hat für die in jahrhundertealtem Stumpfsinn gefesselte russische Masse nicht die Gewalt. Der russische Zusammenbruch als Kriegsmacht erscheint unabwendbar.

Aber der kurz- und engsichtige Militarismus in Deutschland wird daraus wieder verfehlte Schlüsse ziehen und seinen zahlreich vor diesem Krieg und in dessen Verlauf begangenen Irrtümern einen neuen hinzufügen, wenn er glaubt, durch dieses russische Ereignis einen siegreichen Frieden herbeiführen zu können. Das würde nur zu unabsehbarer Verlängerung des Kriegs führen. England und Amerika werden sich durch das Versagen der russischen Militärmacht nicht als geschlagen ansehen. Sie sind es auch nicht. Der russische Zusammenbruch könnte zu einem Ausgleichsfrieden die Brücke bilden, aber niemals den Ausgangspunkt eines Sieges bedeuten, wie es sich die Militärs vorstellen.

Ich habe heute im vollen Wortlaut die Rede Haases gelesen, die er während der letzten Reichstagsverhandlungen hielt. Sie ist entschieden die am höchsten stehende jener Tagung und auch die am meisten patriotische. Einst wird sie als große Rede in ernster Zeit ein wichtiges Dokument dieser Periode und als klassisches Stück unsrer politischen Literatur gelten.