Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 2. Mai.

Die Leute, die sich die Blut- und Eisenmaxime ihres Lehrmeisters Bismarck zur Grundlage ihrer Politik genommen haben, werden doch eines Tages einsehen müssen, dass sie die Möglichkeiten und Wirkungen dieser Methode für unsere Zeit nicht richtig berechnet hatten. Was für Bismarcks Zeit möglich war, ist es nicht mehr in unsrer Zeit. Das Mittel ist furchtbar. Nur wenn es in den lokalen Kriegen der lebten Hälfte des vorigen Jahrhunderts zur Anwendung gelangte, wenn es in kurzen Zeiträumen zum Erfolg führte, vermochte es einen Nutzen für den Verwender zu bringen, der damit rechnen konnte, dass der Erfolg die Schrecken seines Handelns vergessen machen wird. «Le succès effacera tout» soll General von der Golß zu Anfang des Kriegs gesagt haben, als man ihm von den nachhaltigen Wirkungen sprach, die das Vorgehen Deutschlands in Belgien und das Schreckensregiment der deutschen Heere in diesem Land nach sich ziehen wird. Aber die Nachfolger Bismarcks haben übersehen, dass in unsrer Zeit der hochentwickelten Interdependenz der Völker lokale Kriege nicht mehr möglich sind, dass jede Gewaltanwendung in Europa zu einem Weltkrieg führen musste, und das ein derartiges Ringen nicht in kurzen Schlägen zu Ende geführt werden konnte. Durch die Vergrößerung des Kriegs im Raum wie in der Zeit musste die Anwendung der Blut- und Eisenmaxime solche ungeheure Dimensionen annehmen, das jenen, die ihr bis zum Äußersten treu bleiben, und die sich gezwungen sehen, alle Konsequenzen der einmal angewandten Methode zu ziehen, vor ihrer Bismarck-Ähnlichkeit bange werden musste. Das stimmt ja, dass Krieg Gewalt ist, und das, wie feldmarschall Hindenburg dies kürzlich gesagt hat, der Krieg eine harte Sache ist, die mit Handschuhen nicht geführt werden könne. Aber es besteht leider nicht die Aussicht, das man diese mit dem Krieg verbundene notwendige Härte als Entschuldigung wird gelten lassen. Das Blutbad wird zu grob, der Eisenhagel zu vernichtend gewesen sein, und — einerlei, ob nun beide Seiten an diesem Unglück mitgewirkt haben dasjenige Volk, das das Unglück der zahlreicheren, größeren und länger währenden Erfolge zu verzeichnen haben wird, wird den Fluch der Menschheit für alle Schrecken durch die Geschichte zu tragen haben, ganz abgesehen davon, ob es gelingt oder nicht gelingt, ihm auch noch die Schuld an dem Ausbruch des Kriegs nachzuweisen.

Man gibt sich darüber in Deutschland einer großen Täuschung hin, wenn man glaubt, das man mit einem, von einem Achselzucken begleiteten «à la guerre comme à la guerre» zur Tagesordnung und zur menschlichen Gemeinschaft wird übergehen können. Bei der Lektüre eines Artikels von

Friedrich Naumann

(N. Z. Ztg. 11. IV 1918) ist mir kürzlich diese auf falschen Hoffnungen begründete Ansicht so recht deutlich geworden. Er schrieb darin:

«Die Westvölker wollen ein moralisches Weltgericht gegen Deutschland fertig bringen, damit selbst im Falle militärischer Unbesiegbarkeit eine säkulare Beflecktheit übrig bleibt. Selbstverständlich führen auch die Deutschen den Krieg als Krieg, zerstören und verderben, wie es der Krieg mit sich bringt, aber es würde für sie schwer wieder gutzumachende Folgen haben, wenn sie selber unter dem harten Druck so hart würden, auf ihre Zugehörigkeit zur allgemein menschlichen Kultur oder zur christlichen Moral kein besonderes Gewicht mehr zu legen.»

Es darf eben nicht vergessen werden, dass das Zerstören und Verderben, das dieser Krieg mit sich bringt, von der Menschheit noch nie geschaut wurde, dass die bei diesem wahnwitzigen Beginnen geschlagenen Wunden, wenn überhaupt jemals, nach Jahrhunderten nicht geheilt sein werden, und das ein Vergessen, das zu einem Vergeben führt, fast ebenso lange nicht zu erwarten ist. Die Weltverhältnisse waren eben zu einer Kriegführung in Europa nicht mehr geeignet. Die Blut- und Eisenmaxime ist unanwendbar geworden, und indem man es dennoch zu einem Krieg kommen lies, sich auf jene Maxime glaubte stützen zu können, hat man ein Unheil gezeitigt, von dem man nicht mehr loskommen kann, derjenige vor allem nicht loskommen kann, dem der Erfolg lacht und der glaubt, bis zu Ende konsequent bleiben zu müssen. Stümper sind es, die da meinten, die Bismarcksche Zauberformel in unseren Tagen anwenden zu können. Sie, die mit einer kurzen Operation rechneten, sehen nun unendliche Leichenfelder und Trümmerhaufen vor sich, ein Verbluten des Geistes und der Gesamtkultur, ohne dass sie sich mehr helfen können. Die Zauberlehrlinge sind eben keine Meister, und der alte Hexenmeister, der sich auf seine Formeln und auf seine Zeit verstand, ist tot.

Gar nicht abzusehen ist es, zu welchen Zerrüttungen und zu welchen Hassquellen die eiserne Konsequenz, mit der das Gewalthandwerk seitens der Alldeutschen gepredigt und seitens der Militaristen ausgeübt wird, hinführen wird. Jeder Tag bringt neue Maßnahmen, die nur ein immer tieferes Hinunterrasseln in den Abgrund bekunden. Gestern war es eine Verordnung über die deutschen Gerichte in Belgien — ach nein! von Belgien ist gar nicht mehr die Rede. Für die Militärbehörden gibt es kein Belgien mehr. Sie sprechen in ihrer Verordnung nur noch von «Flandern und Wallonien.» Man kennt die Ursache. Ein Konflikt der obersten belgischen Gerichtsbehörde mit der deutschen Behörde. Ein mannhaftes Protestieren belgischer Richter, gefolgt von einem Streik der Gerichte und der Advokaten, In weiterer Verfolgung der Gewalt setzt Deutschland nun in dem armen gequälten Land deutsche Gerichte ein, die nach deutschen Gesetzen Recht sprechen sollen. An und für sich eine entsetzliche Gewalttat an einem unterdrückten Volk. Konsequenz der Blut- und Eisenmaxime. Entsetzlich sind aber erst die näheren Bestimmungen. Die Gerichte werden etwa nicht eingesetzt, damit belgische Bürger ihr Recht finden können, nein, sondern in Zivilsachen ausdrücklich «zum Schutz der privatrechtlichen Interessen der Deutschen, der Verbündeten und der Neutralen!» Also Rechtsprechung des Feindes, nach den Gesetzen des Feindes und nur gegen das unterjochte Volk! In Strafsachen wird die Tätigkeit der deutschen Gerichte nur auf das im Interesse der Aufrechterhaltung der öffentlichung Ordnung Notwendige beschränkt. Nur wo es sich um eine mit dem Tod oder mit mehr als fünf Jahren bedrohte Straftat handelt, werden drei Richter amten, sonst nur ein einzelner deutscher Richter, der es also in der Hand hat, den Beklagten bis zu fünf Jahren in den Kerker zu stecken.

Ist das eine Maßnahme, die eben der Krieg als Krieg mit sich bringt, oder ist das nicht vielmehr eine Schreckenstat als Konsequenz der nun einmal angewandten Blut- und Eisenmethode, des Bismarckismus ohne Bismarck, des Schred<ens ohne Grenzen?