Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 11. Januar.

Eine Reihe arbeits- und anregungsreicher Tage liessen mich nicht zu meinen Eintragungen kommen, und manche, die wert gewesen wären, festgehalten zu werden, mussten übergangen werden.

Die Sitzung des Bureaus brachte uns Enttäuschung und Triumph. Enttäuschung insofern, als L. uns deutschen und österreichischen Delegierten, die wir alle seit Jahrzehnten mit ihm zusammen arbeiten, mit einem an Brutalität grenzenden Hass begegnete. Wäre Quidde mit seiner ruhigen Überlegung und Sachlichkeit nicht anwesend gewesen, ich hätte nicht das Temperament besessen, länger als fünf Minuten nach der ersten Zusammenkunft mit L. beisammen zu bleiben. Nach meinem Geschmack hätte ich ihm sofort den Rücken kehren müssen, so sehr war ich verletzt durch die uns von ihm zuteil gewordene Behandlung, die uns Pazifisten gewissermassen mitverantwortlich machen wollte für das den Belgiern zuteil gewordene Schicksal. Es war aber besser, dass Quiddes ruhige Sachlichkeit triumphierte. Denn wir kamen dann zu ruhigen Erörterungen, wobei wir L. sachlich überzeugen konnten, dass er uns unrecht tut. Aber immer, wenn er wieder zusammentraf mit uns, war er neuerdings aufgeregt. Wehe uns, wenn der Hass zwischen den Völkern sich in dieser Weise aufrecht erhält, wenn er schon zwischen Gleichgesinnten und langjährigen Arbeitsgenossen nicht überwunden werden kann!

Von den französischen Delegierten war niemand erschienen, da sie alle, teils durch Militärdienst, teils durch andere Verpflichtungen verhindert waren. Nach langem unfruchtbaren Gerede kamen wir zu positiver Arbeit. Auf meinen Antrag wurden drei Aufrufe angenommen, an unsere Organisationen, an die internationalen Körperschaften, an die Intelligenz aller Länder; darin werden die Grundlagen unserer Forderungen für den künftigen Friedensvertrag festgestellt. Diese Aufrufe sollen der weitern Öffentlichkeit übergeben werden. So glaube ich doch, dass die Bureauversammlung vom 6. und 7. Januar 1915, die mitten im Krieg stattgefunden hat, eine gewisse Bedeutung erlangen wird.

Ausserhalb der Bureausitzung vereinbarten auf meine Anregung die Holländer mit Nippold und mir die Einberufung einer ausserordentlichen Friedenskonferenz nach Bern oder nach dem Haag für Ostern.

Erfreulich war es, dass Gelegenheit geboten wurde, mit zahlreichen Friedensarbeitern aus verschiedenen Ländern zusammenzukommen, und uns zu überzeugen, dass die Auffassungen über den Krieg ziemlich gleiche sind.