Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

4. November (Bern) 1914.

Gestern wurde ich durch einen mit Feldpost übersandten Artikel überrascht, der in einem Schützengraben nördlich von Arras geschrieben wurde. Der Artikel ist ein «Aufruf an die germanischen Völker» zur Bildung einer starken Friedensmacht, die den Krieg unmöglich machen sollte. Es heisst darin:

«Wer diesen Krieg in vorderster Linie mitkämpft, wer sich vergegenwärtigt all den unsagbaren Jammer, den ein moderner Krieg ... hervorruft, der wird sich zu der Überzeugung durchringen müssen, falls er sie nicht schon vorher gehabt: Die Menschheit muss den Krieg überwinden lernen, es ist nicht wahr, dass der ewige Friede ein Traum sei und noch dazu kein schöner, es muss, es wird eine Zeit kommen, die den Krieg nicht mehr kennt, und diese Zeit wird gegenüber der unsrigen einen Fortschritt bedeuten ...» Und an anderer Stelle: «Was ist es, was uns trennt? ... Vor allem wohl die erschreckende Unbeliebtheit der Deutschen, über die uns gerade der jetzt entbrannte Krieg jäh die Augen geöffnet hat. Jedes Ding hat seine Ursache, und so müssen wir auch diesen uns entgegengebrachten Hass verursacht, zum Teil wohl auch verschuldet haben; — nach dem Frieden wird Zeit genug sein, sich über die Gründe zu unterhalten, und nicht der letzte Gewinn des Krieges wird es hoffentlich sein, dass der Deutsche nach dieser Richtung Einkehr bei sich hält und seine Fehler zu erkennen und zu bessern sucht.»7)

Das sind Worte, die durch die Situation in der sie geschrieben wurden, hohe Bedeutung erhalten. Es ist das Dämmern der pazifistischen Idee mitten im Ringen der Schlacht. Und auch die Persönlichkeit, die hier im Schützengraben am Schlachtfeld von Flandern stehend einen Artikel für die «Friedens-Warte» schreibt, ist für die symptomatische Bedeutung dieser Worte von Wichtigkeit. Es ist ein Freiherr Marschall von Biberstein, Preussischer Landrat und Hauptmann der Reserve des I. Garderegiments zu Fuss.

Der Schluss, dass wir Recht behalten haben mit der Behauptung, dieser Schreckenskrieg ist ein pazifistischer Anschauungsunterricht, findet durch diesen Artikel Bestätigung. Nicht minder der Schluss, dass unsere Saat aufgeht, und dass das zum Denken erwachte deutsche Volk trotz seiner Presse und seiner chauvinistischen Narren die Mitarbeit an der Weltorganisation nach dem Kriege in verstärkter Weise aufnehmen wird.

In der «N. Fr. Pr.» war am 1. November ein Leitartikel, der im Hinblick auf den Allerseelentag mit den Toten dieses Krieges befasste. Als Ursache dieses grossen Sterbens ist König Eduard VII. angegeben. Merkwürdig! Die Ursachen dieses Krieges sind täglich andere. Es zeigt sich eine so rührige Suche nach Ursachen, die von grosser Nervosität zeugt und wahrhaftig der Nation nicht würdig ist. Das selbe Blatt, das bis vor kurzem den grosserbischen Gedanken und das Sarajewoer Attentat als des Krieges Ursache hinstellte, entdeckt nun plötzlich Eduard VII. als dessen Motor. Es hat vergessen, dass in den heissen Juli-Tagen dieses Jahres in ganz Österreich-Ungarn die Parole ausgegeben war: «Wir können es nicht mehr aushalten» (mit Serbien nämlich), und dass von König Eduard und seiner Politik nie die Rede war. Erst als England sich am Krieg beteiligte, wurde die alte Phrase von der Einkreisungspolitik, die nach allen Regierungsäusserungen der letzten fünf Jahre seitens deutscher politischer Stellen als glücklich überwunden angesehen war, aus dem Aktenstaub der diplomatischen Schlagworte geholt und der öffentlichen Meinung zum gefälligen Gebrauch vorgeworfen.

Diese Ursachenforschung a posteriori ist für die Sache der Zentralmächte im höchsten Grad kreditschädigend. Sowohl die nachträgliche Forschung nach der Ursache des Kriegs im allgemeinen, wie die nachträglichen Rechtfertigungsversuche der Verletzung der belgischen Neutralität sind für die Sache der Zentralmächte nicht günstig.

Die Theaterkritiker geben ihren überflüssigen Beruf auch in dieser blutigen Zeit nicht auf. Auch jetzt wagen sie über den Bau eines Stückes und über die Art seiner Aufführung herumzudoktern und zu geistreicheln. Diese Gilde muss sich wichtig genug vorkommen, wenn ihr geistige Purzelbäume auch in einer Zeit gestattet werden, wo Europa in Flammen steht. Kein Wunder, wenn sie sich dann erlauben, in den Zeitungen auch über die Politik ihr Urteil abzugeben. Denn das Publikum, das gewöhnt ist, nach ihrem Urteil zu tanzen, glaubt ihnen eher als uns. Wer an Theaterstücken gescheit herumzudoktern wagt, wird doch auch Bescheid wissen über die Komödie der Politik.

Überhaupt dieser Zwang zum Kunstenthusiasmus, der jetzt in der ganzen Welt ausgeübt wird, ist zu grotesk. Die Menschheit schreit auf vor Jammer und Entsetzen; aber die Vergnügungstempel müssen im Betrieb sein. Erstens, um allenthalben die Suggestion aufrecht zu erhalten, wie gut es uns gehe (das Theater als Kriegslist); zweitens — und das ist ein triftigerer Grund — um den armen Schauspielern, Musikern usw. Beschäftigung zu geben. Man muss also in der Zeit des blutigsten Ernstes zustimmen, Spässe machen und Komödie spielen zu lassen. Auffallende Kleidung und heiteres Benehmen verargt man den Damen auf Berliner Strassen. Aber Possen und Operetten darf man nicht verargen, weil dahinter der Hunger steht.

So traurig das ist — es liegt etwas Trostreiches dahinter. Der Hunger steht auch hinter den zerstörten internationalen Verbindungen. Und so sehr ihr euch national geberdet, ihr werdet sie daher nach dem Kriege alle wieder aufrichten müssen. Es stehen mehr Magen hinter diesen heilsamen Einrichtungen als heute hinter dem Anachronismus der Bühne.

Heute bei Gesandten Baron von G. Liebenswürdiger österreichischer Adeliger. Wenig Einblick in die Dinge, die heute die Welt bewegen. Krieg wäre bedingt durch die Menschennatur und die Kulturdifferenz der Völker usw.

Nachher Besuch des Prof. Dr. Benjamin F. Battin vom Swarthmore College in Pennsylvanien, der von meiner Anwesenheit gehört hat. Quäcker. Wie alle Angehörigen dieser Sekte von hohem sittlichen Ernst. Er ist auf ein Jahr nach Europa delegiert, um für die Church-Peace League zu wirken. Erzählt welch tiefen Eindruck die Verletzung der belgischen Neutralität in Amerika gemacht habe. Man halte dort das Vorgehen Englands deshalb für vollkommen gerechtfertigt. Man hätte an Stelle Englands ebenso gehandelt. Er liess durchblicken, dass sich in Amerika leicht eine grosse Volksbewegung entfesseln würde, wenn den Belgiern dauernd Unrecht zugefügt werden sollte. Im übrigen sind die Leute dort gut beschlagen. Dernburg legte ihnen dar, dass der Krieg in Deutschland vom Volkswillen getragen werde, da der Reichstag durch das allgemeine Stimmrecht gewählt werde, worauf ihm flugs geantwortet wurde, dass diese Volksstimme durch das veraltete und verfassungswidrige Wahlkreissystem stark beeinträchtigt werde. Die Vertreter der deutschen Sache haben in Amerika wirklich keinen leichten Stand. Das verderbliche Buch des Generals Bernhardi «Deutschland und der Weltkrieg», das die Furcht vor Deutschland und damit den Welthass so entsetzlich beeinflusst hat, wird in Amerika in englischer Übersetzung zu 25 Cents in Massen verkauft.


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Der ganze Aufruf ist abgedruckt im Heft 11/12 der
«Friedens-Warte» 1914.