Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Lugano, 24. April.

Niemals habe ich das Goethewort «wo Begriffe fehlen, da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein» so sehr verstanden wie jetzt im Krieg. Man jongliert mit Worten und Zahlen, ohne überhaupt fähig zu sein, den damit gedeckten Begriff zu erfassen. Da streitet man sich z. B. in den Zeitungen herum über die Verluste der Russen in der grossen Karpathenschlacht. Eine halbe Million behaupten die Einen. Nein! Furchtbar übertrieben. Höchstens eine viertel Million. Also 250,000 tote, verwundete und gefangene Menschen. 250,000! Was stellt sich einer unter dieser Zahl wohl vor? Gestern ist in Berlin ein Strassenbahnwagen in die Spree gefallen. 5 Tote. Ihre Namen stehen heute in den Blättern, ihre Berufe. Das gibt eine Vorstellung, das erfasst uns. Aber zweimalhundertundfünfzigtausend geht über die Vorstellung. Wir begnügen uns, uns zu sagen, dass es etwas Schreckliches sein muss; haben aber von der Masse des Schreckens, des Elends, das darin liegt, keine Ahnung. Es ist geradeso als ob wir das Wort Ozean aussprechen. Was denken wir dabei? — Grün, stürmisch, schäumende Wellen. Zwei, drei, dreissig schäumende Wellen. Dreissig! Das Unermessliche, was Ozean ist, was da lebt und sich bewegt, ist uns versagt auszudenken.

Diese Begriffsarmut kommt den Anhängern des Kriegs zugute. Sie laborieren mit Details, die unsern Begriffen fassbar sind, mit Attacken, einzelnen Heldentaten, begrenzten Schlachten, Einzügen usw. Das prägt sich dem Gehirn ein, wird erfasst. Man denkt sich etwas dabei. Was denkt man sich aber, wenn wir vom «Elend» des Kriegs sprechen? Und wenn wir noch so detaillieren? Wir sprechen von Toten, Verwundeten, Krüppeln, Waisen, Witwen, Flüchtlingen, verbrannten Heimstätten, zerschossenen Städten, von Epidemien, Vermögensruin, und weiss Gott was noch; aber einen Begriff kann man sich von der Gesamtheit dessen, was ein halbes Dutzend Menschen im Juli vorigen Jahres ausgeheckt haben, doch nicht machen. Es übersteigt die menschliche Vorstellungskraft.

Wenn der Krieg vorüber ist, und die Menschheit wieder zur Besinnung kommen wird, wird man gut tun, daran zu denken, eine Enzyklopädie des menschlichen Leids durch den Krieg herzustellen. In jedem Land eine besondere. Etwa so ein Generalstabswerk des Elends, das dem durch Krieg verursachten Leid bis ins Entfernste nachspürt und, wenn man schon keinen richtigen Begriff davon bekommen kann, doch eine Anschauung vermittelt.

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Gerade weil man sich bei Dimensionen, die über unsre Begriffe gehen, nichts vorstellen kann, gelangen wir zu karikierten Vorstellungen, die in keiner Weise der Wirklichkeit entsprechen. Dies zeigt sich bei dem üblichen Enbloc-Urteil über die Nationen. Wir hören von «den Deutschen» und «den Engländern» sprechen, als ob sich Einer, der dies tut, eine Vorstellung von der Gesamtheit eines Millionenvolkes machen könnte. Unter 60 oder 50 Millionen Menschen sind alle Abarten des Charakters, der Gesinnung, der Bildung, der Kultur vertreten. Dennoch urteilt jeder entweder nach den sechs oder dreissig oder siebzig Menschen, die er persönlich kennt oder — was zumeist der Fall und noch ärger ist — einfach nach dem Kurs der Zeitungsberichte. Es soll nicht nur heissen «Wie einer ist, so ist sein Gott; drum ward auch Gott so oft zum Spott». Wie Einer ist, so ist auch sein Engländer, oder sein Deutscher, oder sein Franzose oder sein Südamerikaner usw. Es gibt einen Durchschnittscharakter der Nationen? Vielleicht? Aber der kann in keinem Fall für die Beurteilung massgebend sein; denn nicht der Durchschnitt ist ausschlaggebend für die Völker, sondern ihre Elite. Wir beurteilen das Gute in der Welt nie nach dem Durchschnitt, sondern nach seinen Höhen. Der Durchschnitt wird immer das Minderwertige, das die Mehrheit hat, zu einer ganz unberechtigten Geltung kommen lassen.