Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 27. Juni.

Den Satz von Börne muss ich wieder zitieren, der ungefähr lautet: Seitdem Pythagoras nach Entdeckung seines Lehrsatzes eine Hekatombe Ochsen geopfert hat, seitdem zittert alles gehörnte Vieh, wenn irgendwo eine neue Wahrheit entdeckt wurde. — Kaum hat Kühlmann die Wahrheit bekannt, dass der Krieg durch militärische Entscheidungen allein nicht beendigt werden könne, ging ein Entseben durch die Reihen der alldeutsch infizierten Parteien. Und nach der Abschwächung durch Hertling musste nun vorgestern auch Kühlmann revozieren. Er wollte die Verhandlungen nur als das Sekundäre, Nachfolgende angesehen haben, die diplomatische Arbeit wird sich an die Siege anschließen müssen. Der Vernunft, die sich also schüchtern zeigte, wurde «Abtreten» kommandiert. Die Grimasse wurde gewahrt, der Glaube an eine Beendigung des Kriegs durch die Waffenentscheidung soll nach wie vor dem Volk erhalten bleiben. Ob aber das Volk in seiner Mehrheit daran glaubt, will mir fraglich erscheinen. Vier Jahre Krieg und doch kein Ende wird den Denkfaulsten zum Denken bringen. Der Rückzug Kühlmanns ist nur ein Scheinsieg der Alldeutschen. Die Wirklichkeit ist gegen sie.

Graf Hertling hat sich hier zum Sprachrohr derjenigen gemacht, die in der Völkerbundsidee eine Gefahr für die preußische Gewaltpolitik erblicken, und die kein besseres Mittel wissen, sich diese Gefahr vom Leib zu halten, als die Völkerbundsidee, deren Ziel es ist, die Vergewaltigung, den Krieg aus den Menschheitsbeziehungen aus zuschalten, als ein zur Vergewaltigung Deutschlands dienendes Unternehmen dem deutschen Volk gegenüber zu diskreditieren. Das ist ein trauriges Vorkommnis, wenn man den führenden Staatsmann so als Geführten, so im Schlepptau der Gewaltanhänger sieht. Woher bezieht der Reichskanzler seine Kenntnisse? Hat er die zahlreichen wissenschaftlichen Veröffentlichungen über den Völkerbund gelesen, die in England, in Amerika, in Frankreich herausgekommen sind, hat er die Rede gelesen, die von den zum Studium und zur Propagierung der Völkerbundsidee in den genannten Ländern begründeten Korporationen, in der amerikanischen «League io. enforce peace», in der englischen «League of nations society», in der französischen Gesellschaft «Pour la société des nations» gehalten wurden, hat er Kenntnis gehabt von der Veröffentlichung Lord Greys (sieh meine Eintragungen vom 22. Juni), die einige Tage vor seiner Rede bekannt geworden, oder hat er von dem Völkerbundsideal lediglich durch einige gehässige Zeitungsausschnitte kriegerisch orientierter Journalisten oder Straßenpolitiker Kenntnis genommen, die ihm ein militärisch gesinnter deutscher Sekretär dienstbeflissen unterbreitet hat?

Dass der Völkerbund eine Gefahr ist für das heutige System in Deutschland, das soll nicht bestritten werden. Der Gedanke wurde geboren und entwickelt sich, weil just dieses System eine Gefahr für die Welt ist. Nicht um Deutschland zu isolieren, wurde er erweckt, wird er betrieben, sondern um sich von den Amokläufern des alldeutschen Wahnsinns und des deutschen Militarismus zu schützen. Es ist eine Verkennung der Weltziele, wenn der Reichskanzler in einem Völkerbund eine Abschnürung des Lebensodems des deutschen Volks erblickt. Der Weltkrankheit, die in einer Minderheit in Deutschland ihren Sife hat, soll der Odem abgeschnitten werden, damit Deutschland selbst im Verein mit der übrigen Menschheit genesen und freier atmen kann. Das «aufstrebende Deutschland» soll aufstreben können, wie es sich in einer Gemeinschaft geziemt, nicht außenstehend und niederstoßend, auf Kosten dieser Gemeinschaft, sondern mit dieser.

Oh! Ihr könnt aus Euren engen Gehäusen des Denkens nicht hinaus! Ihr seht die Welt noch immer so an, wie es Nordau von jener Fliege schildert, die in der Riesenstatue der Bavaria lebt, und in dieser sich ihre Weltanschauung bildet. Ihr seht die Welt, nicht wie sie ist, wie sie heute ist, sondern wie sie einmal war, als die Maschine sie noch nicht zu einer einzigen Stadt verkleinert hat, in der es heißt, sich anzupassen oder unterzugehen, in der das Vorbild alter Gewalttaten und alter Eroberungen, die frühere Möglichkeit der Expansion, des Sich-Auslebens eines Einzelnen auf Kosten der andern, ebensowenig gegeben ist, wie das Recht auf Jagd und Schießerei in der Straße einer modernen Großstadt nicht mehr ausgeübt werden kann.

Heraus aus diesem engen Gehäuse des Denkens, die Augen geöffnet für die Veränderungen dieser Welt, sonst kommt Tod und Verderben!

Gestern Abend berichtete mir ein Telegramm, dass Professor Nicolai mittels Aeroplan von Neu-Ruppin aus, nach Dänemark entkommen ist. Hocherfreut. So weit ist es also, dass ein Mann, der zu den größten Geistern Deutschlands zu rechnen ist, deshalb, weil er den Krieg verurteilt, auf abenteuerliche Weise zur Flucht gezwungen war. Hier hat die Erfindung des Luftfahrzeugs, das den menschlichen Genius bisher geschändet hat, zum erstenmal zu einem edlen Zweck gedient.