Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 10. Februar.

Schlieben ist vorgestern aus Belgrad zurückgekommen. Gestern Haarsträubendes von ihm gehört. Das serbische Volk verhungert. Wohlhabende Familien haben nichts zu essen. Eine ihm bekannte Familie erzählte, dass sie ihren Kindern seit zehn Tagen nichts zu essen geben konnte. Auf dem Boden fanden sie alte Maiskörner, mit denen sie die Kinder nährten; worauf diese an Dysenterie erkrankten. Es gibt keine Kohle für die Einwohner. Auch für Geld können sich die Serben Kohlen nicht verschaffen, die nur für die Militärs reserviert bleiben. Der Familie des frühern Ministers Gruic hat man den mit Brennmaterial wohlgefüllten Keller geräumt. Als die Familie nachher Kohlen kaufen wollte, wurden ihr diese verweigert. Dagegen wird in anderer Weise Verschwendung damit getrieben. In hohen Bergen liegen Kohlen im Elektrizitätswerk der Stadt. Die Einwohner dürfen aber kein elektrisches Licht brennen, während die Militärs damit Verschwendung treiben und die Lichteinrichtung oft die ganze Nacht brennen lassen. In einem seiner Zimmer, die von deutschen Offizieren bewohnt waren, fand Sch. eine 600 Kerzen starke Birne eingeschraubt. Das Leben der Einwohner ist fürchterlich. Die Männer sind zum grössten Teil gefangen oder interniert. Frauen, Kinder, Greise sind hilflos. Pensionen und Gehälter werden nicht ausbezahlt. Die Krone muss zum Werte von zwei Dinars angenommen, also zweifach überzahlt werden. Kein Einwohner darf eine andere Wohnung betreten als die eigene. Er darf also auch nicht seine Verwandten besuchen. Briefverkehr und Geldsendungen sind verboten. Den Tram dürfen nur Militärs benutzen, und nach sieben Uhr (bis Januar nach vier Uhr) darf sich kein Einwohner mehr auf der Strasse zeigen. Sie müssen also in dunklen und kalten Zimmern lungern, und allein hungern. —

Das Fürchterliche sind aber die Plünderungen. Belgrad soll vierzehn Tage lang geplündert worden sein. «Allgemeine Requisition» heisst der technische Ausdruck. In seiner eigenen Wohnung fehlten für fünfzehntausend Franken Gegenstände. Die Schränke wurden erbrochen, desgleichen der Weinkeller, eine Vitrine mit kostbaren Miniaturen und Fächern. In der Wohnung vornehmer Eingeborener hat man mit Salonmöbeln geheizt, die Seiden und Lederbehänge zerschnitten. Bilder aus den Rahmen geschnitten, bei Familienbildern die Augen ausgestochen und, was das Schlimmste ist, waggonweise Möbel und Luxusgegenstände nach Deutschland transportiert. Die Lebensmittel hat man alle requiriert. Das Volk verhungert. Sch. traf Bekannte, die zum Skelett abgemagert sind. Auch die Geschäfte wurden geplündert. Einem Grosskaufmann hat man für 300.000 Franken Seide weggenommen, die dieser aus Deutschland bezogen hatte. Der deutsche Lieferant ist der Leidtragende, denn er wird die Seide niemals bezahlt erhalten. Die Haupternährungsquelle des Landes ist die Pflaumenzucht. Und bösartig soll man ganze Pflanzungen von Pflaumenbäumen niedergebrochen haben. In Anwesenheit Sch.’s erschien auf der Polizei eine Frau besserer Stände und bat um eine Konzession, um mit ihren vier Töchtern ein öffentliches Haus errichten zu dürfen, da sie sonst vor Hunger sterben müssten. —

Das ist der «humane», der «frisch-fröhliche» Krieg, das ist die Kriegführung der Kultur!

Während man in Deutschland die blosse — und eingestandenermassen undurchführbare — Absicht auf Aushungerung des deutschen Volkes als ein todeswürdiges Verbrechen ansieht, zu dessen Wiedervergeltung man zu den schwersten Massnahmen sich berechtigt fühlt, soll hier unter den Augen deutscher Behörden ein Volk buchstäblich verhungern? —