Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Thun, 28. Juni.

Denkwürdiges Datum. Heute vor einem Jahr der Mord in Sarajewo. Da kam der Stein ins Rollen. Dass es auch ohne diesen Mord zum Krieg gekommen wäre, ist nur zu klar. Die Vorgeschichte beweist, dass diese Aktion gewollt war. Der Mord von Sarajewo verstärkte die Möglichkeiten ihrer Ausführung. Nach einem Telegramm der «Neuen Zürcher Zeitung» heben Wiener Blätter hervor, dass der Doppelmord von Sarajewo «nunmehr eine erhebende Sühne gefunden habe». Eine erhebende Sühne! Ist das nicht Schändung der Leichen der Ermordeten, glauben zu machen, dass das Blut der Millionen Jünglinge, die bis jetzt in Europa gefallen, vergossen wurde, um jenen Mord zu sühnen, die Sühne gar «erhebend» zu gestalten? In welchen geistigen Atmosphären leben diese Schleimschreiber?

Ist es das durch den bald bevorstehenden Jahrestag des Kriegs erweckte Gewissen, dass das Gerede vom Friedensschluss jetzt nicht mehr verstummt. Es scheint sich jetzt doch etwas vorzubereiten in der Welt. Der «Vorwärts» vom 26. Juni veröffentlicht ein Friedensmanifest der sozialdemokratischen Partei. Eine ganze Seite Text. Deutschland, das bewiesen hat, dass es unbesiegbar ist, sollte den ersten Schritt zur Herbeiführung des Friedens tun. «Im Namen der Menschlichkeit und Kultur, gestützt auf die durch die Tapferkeit unsrer Volksgenossen in Waffen geschaffene günstige Kriegslage fordern wir die Regierung auf, ihre Bereitwilligkeit kundzutun, in Friedensverhandlungen einzutreten, um dem blutigen Ringen ein Ende zu machen».

Gleichzeitig wird dem Erwarten Ausdruck verliehen, dass die sozialistischen Parteien in den andern Ländern im gleichen Sinn auf ihre Regierungen einwirken.

Dieses Manifest ist eine Tat. Der «Vorwärts» wurde zwar nach der Veröffentlichung verboten, es hat aber den Anschein, als ob die Regierung mit diesem Aufruf doch einverstanden sei. Von der Aufnahme bei den sozialistischen Parteien der andern kriegführenden Länder wird es jetzt abhängen, ob die Erörterungen über einen Friedensschluss in Gang kommen. Sie müssen sich dazu äussern. Und es ist möglich, dass der Weg gefunden wird, den die Vernunft weist. Das Verbot des «Vorwärts» will nicht viel besagen. In der Regierung scheinen zwei Richtungen sich zu bekämpfen. Die dem Friedensschluss zugeneigte, mit dem Reichskanzler an der Spitze, und die Kriegspartei mit den Militär- und Marine-Spitzen als Führer. Letztere ist es auch, die Annexionen um jeden Preis will.

Auch andre Anzeichen liegen noch vor, die nach dem Friedensschluss weisen. So die Nachrichten aus Amerika über die von Bryan inszenierte grosse Volksbewegung für eine Vermittlung und Herbeiführung eines europäischen Staatensystems. Es regt sich allerorten. Im Herbst haben wir den Frieden oder — eine Zuspitzung des Kriegs, wie sie die Welt noch nicht gesehen.