Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 22. März.

Das größte Interesse erregt in letzter Zeit der deutsche Rückzug im Westen. Von den Deutschen als eine siegreiche Unternehmung von höchster Genialität bezeichnet, erklären ihn die Engländer und Franzosen als einen unfreiwilligen Vorgang, den der Druck ihrer eigenen Heeresmassen erzeugte. Es fehlt dort nicht an Vergleichen mit dem deutschen Rückzug an der Marne. Heute ist es noch nicht klar, zu übersehen, wer im Recht ist. Dass ein Rückzug, selbst wenn er anscheinend freiwillig erfolgt, nicht gerade einen siegreichen Vorgang bedeutet, ist ja einleuchtend. Zumal, wenn man bedenkt, mit welchen Opfern bisher jeder Schritt des besetzten Gebiets gehalten wurde. Dennoch kann auch ein Rückzug als Verbesserung der Lage gelten und einen Sieg vorbereiten.

Vielleicht liegt aber dem deutschen Rückzug ein ganz anderer Gedanke zugrunde. Vielleicht sind diese Bewegungen als stumme Friedensverhandlungen gedacht, als Vorschläge ohne Worte.

Auf diesen Gedanken bringen mich die Berichte deutscher Journalisten über den Zustand des verlassenen Gebiets.

So schreibt Karl Rosner im «Berliner Lokalanzeiger»:

«Im Laufe der letzten Monate wurden aus militärischen Gründen große Gebietsstreifen Frankreichs durch uns zu totem Gelände gestaltet, dass sich 10, 12—15 km breit längs unsrer gesamten Stellung hinzieht. Kein Dorf und kein Gehöft blieb stehen in diesem Glacis, keine Strasse blieb fahrbar, keine Brücke, kein Schienenstrang, kein Bahndamm blieb bestehen: vor unsern neuen Stellungen zieht sich als ungeheures Band ein Reich des Todes».

Der Korrespondent der «Frankfurter Zeitung», Eugen Kalkschmidt, berichtet noch anschaulicher:

«Eine breite Zone der Zerstörung ist entstanden, eine Zone des Kriegs in seiner unerbittlichsten Gewalt. Blühende Dörfer, bisher bewohnt und inmitten friedlich bestellter Felder und Obstgärten gelagert, rauchen in Schutt und Asche. Überall waren die Pioniere dabei, Hand an das Werk zu legen. Die mächtigen Stämme der französischen Alleebäume lagen teils gefällt am Wege, teils waren sie angesägt, um im letzten Augenblick als Hindernis über die Straße geworfen zu werden. Die Straßenkreuzungen, die Brücken, die Kanäle und Schleusen waren miniert, die Minenkammern geladen».

Queri im «Berliner Tagblatt» lässt schon deutlicher das Motiv erkennen:

«Diese Scholle trägt keinen Baum mehr und nicht einmal einen Strauch. Es gibt kein Haus und keine Hütte mehr, die Ablehnung des Friedensangebotes ist beantwortet: die den Krieg fortsetzen wollten, müssen seine unheimlichsten Erscheinungen kennen lernen. Es muss eine Wüste zwischen dem Feind und uns liegen. Wir haben ein winziges Teilchen unserer Faustpfänder aufgegeben und in einer Form dem Gegner anheimgestellt, die ihn nachdenklich machen muss».

Sollen diese Verwüstungen den Gegnern sagen, dass so das Gebiet aussehen würde, wenn sie es im Kampf erringen würden, dass sie aber diese unwiederherstellbare Vernichtung sich ersparen könnten, wenn sie verhandeln wollten? Soll der Rückzug ein Anschauungsunterricht sein, ein Friedensangebot eigner Art?

In der Tat grässlich muss dieses Land aussehen, das nun in solch furchtbarer Weise verheert wird. Die Gegner werden es Vandalismus nennen, die Deutschen strategische Notwendigkeit. Wie es immer bezeichnet werden wird, es wird die Quelle des Hasses für die davon Betroffenen bilden, es wird der Fluch des Kriegs sein, den Bewusstlose noch immer zu preisen wagen.

Wie mutet doch der Gedankengang eines Bewohners der solcher Art vernichteten Landstriche an, der sich sagen soll: Und all das, weil man sich über die Mitwirkung österreichischer Gerichtspersonen an einem serbischen Gerichtsverfahren nicht einigen konnte? Das Land wäre blühend, wäre reich geblieben, wäre nicht auf ein Jahrhundert zu einer Wüste verwandelt worden, wenn Herr Berchtold Ende Juni in Wien geblieben und nicht nach Ischl gefahren wäre, wo man ihn gar nicht nötig hatte.

Und nun soll man aber aufhören, von dem Vandalismus in der Pfalz zu sprechen, die dekorative Ruine des Heidelberger Schlosses als Racheobjekt gegen Frankreich der deutschen Jugend vorzustellen; denn die Gegenrechnung stimmt nicht mehr. Auch jener Vandalismus war einmal eine «strategische Notwendigkeit». Und wenn schon diese Zerstörung der Pfalz nach zweihundert Jahren als Quelle des Hasses dienen konnte, wie lange und kräftig wird erst diese Quelle an der Ancre und der Oise sprudeln?