Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

12. März (Zürich).

Vorgestern ist in Berlin wieder der Reichstag zusammengetreten. Der Staatssekretär Helfferich forderte einen neuen Kriegskredit von zehn Milliarden. Zehn Milliarden! Mit den bereits geforderten also zwanzig Milliarden! Und das nur als ausreichend bis zum Spätherbst bezeichnet. Wenn der Krieg länger dauert, geht es noch weiter in die Milliarden hinein. Und selbst wenn er bis dahin beendigt sein sollte, wird man weitere Milliarden für die Wiederherstellung benötigen. Der deutsche Staatssekretär für die Finanzen hat bezüglich einer künftigen Kriegsentschädigung andre Ansichten als der ehemalige ungarische Ministerpräsident Weckerle (Sieh die Eintragung vom 6. März). Spricht dieser davon, dass wir vorbereitet sein müssen, selbst die Lasten des Kriegs zu tragen, so erklärte jener im Reichstag: «Über die Tilgung der Kriegsschuld ist später eine Bestimmung zu treffen. Wir können nicht darauf verzichten, dass unsre Feinde uns für den materiellen Schaden einstehen, den sie mit dem frevelhaft angezettelten Krieg angerichtet haben».

Diese Hoffnung rückt die Friedensmöglichkeit weiter hinaus.

Wenn etwas den Wahnsinn der Anarchie augenfällig machen kann, wird es die Geldvergeudung sein, die sie mit sich gebracht haben wird.

Die Hoffnung, dass Deutschland seine Kriegsausgaben durch die Gegner ersetzt erhalten wird, ist, falls es wirklich dazu kommt, doch nur eine Täuschung. Bei dem Zusammenhang der internationalen Wirtschaft wird dieses Geld, das unproduktiv für Schäden ausgegeben werden muss, ja doch irgendwo fehlen. Der Aussenhandel Deutschlands wird unter der geringem Konsumfähigkeit der zum Schadenersatz verpflichteten Staaten zu leiden haben, so dass Deutschland, selbst wenn es die Kriegsentschädigung erhält, indirekt diese wird mitbezahlen müssen. In einem Organismus trifft ein Blutverlust nicht nur die Stelle, wo er sich ereignet, sondern den ganzen Organismus. Und ein Organismus ist die Welt. Ein Organismus, der jetzt an Diabetes erkrankt ist. Das nährende Eiweiss bleibt nicht im Körper, sondern wird durch Krieg und Rüstungswahn diesem entzogen.

Sensationeller Artikel in den «Times». «Selbst wenn Deutschland nicht in Belgien eingefallen wäre, hätten Ehre und Interesse uns mit Frankreich vereint». Wahrung der Ehre und des Vorteils; «... denn Ehre ist die beste Politik». Das erinnert ein wenig an das vor einigen Jahren auch auf deutschen Bühnen aufgeführte Pariser Salonstück «Les ventres dorées», wo eine verkrachte Aktiengesellschaft, die sich mit der Erschliessung von Ländereien in «Mauretanien» befasste, einen Überfall der Eingeborenen als Glücksfall bezeichnet, da sich jetzt, wo «die Fahne engagiert» ist, der Staat einsetzen müsse. «Wir sind doch keine Barbaren mehr», ruft einer der Aktionäre aus, «die bloss um die Ehre kämpfen». — Aber ganz so scherzhaft ist die Sache doch nicht abzutun. Es liegt tiefe Weisheit in dem Satz «die Ehre ist die beste Politik». Wenn die Ehre hier gleichbedeutend ist mit Rechtschaffenheit, Rechtlichkeit, Ordnung, so ist dagegen nichts einzuwenden. Wir sagen ja auch «nichtswürdig ist die Nation, die nicht ihr alles einsetzt für die Ehre». Doch nicht im Sinne der mittelalterlichen Ritterlichkeit darf die Ehre aufgefasst werden, sondern in dem neuen Sinn der Vertragstreue, der Achtung vor der Gemeinschaft. Der moderne Staat muss heute die Ehre darein legen, die Interessen der Gesamtheit zu berücksichtigen. Diese Ehre macht sich reichlich bezahlt; denn sie schützt uns vor den Verletzungen unsrer eignen Ehre durch andre. Wir Pazifisten haben immer das Interesse an der Aufrechterhaltung des Rechts als den Ersatz der mangelnden Exekution im Völkerrecht bezeichnet. Auch den Respekt vor der öffentlichen Meinung. Man begeht auch im bürgerlichen Leben in der Mehrzahl der Fälle nicht nur deshalb kein Unrecht, weil das Strafgesetz dahinter steht, und uns bedroht, sondern weil wir die allgemeine Achtung nicht verlieren wollen. So wird es auch einmal mit der Staatengemeinschaft kommen. Dann wird in der Tat die Ehre die beste Politik sein.

Professor Friedrich Wilhem Förster aus München hat dieser Tage in Wien einen Vortrag über «Staat und Sittengesetz» gehalten, der zu den erfreulichsten Äusserungen der Zeit gehört. Nach einem Bericht der «Arbeiterzeitung» sagte er folgendes:

«Mein Vortrag mag heute, da das Sittengesetz schweigt und Mars die Stunde regiert, utopistisch erscheinen. Aber es scheint mir notwendig, darauf hinzuweisen, dass die hinter der Front andere Aufgaben haben, als die an der Front. Als Israel kämpfte, da betete Moses: er schimpfte nicht. Das heisst, wir müssen uns schon heute fragen: Wie können wir der Wiederkehr einer solchen Weltnot vorbeugen? In München sagte neulich ein Offizier zu einem Bekannten: ,Ich möchte wissen, welchen Sinn der Weltkrieg hat. Ich sehe nichts als eine grosse europäische Abschlachterei!’ Die Stimmung, die daraus spricht, ergreift immer grössere Kreise. Immer allgemeiner wird die Erkenntnis, dass die positiven Werte, die der Krieg schafft, aufgewogen, ja überwogen werden durch den Schaden, den er anrichtet. Es ist die allgemeine Auffassung, dass die hohe Politik gänzlich versagt hat. Nicht weil es ihr an Schlauheit und Geriebenheit gefehlt hätte, sondern weil sie sich trotz ihrem realpolitischen Gehaben der Umwandlung, die die reale Welt in den letzten Jahrzehnten durchgemacht hat, nicht anzupassen verstanden hat. Man hat in der hohen Politik grundsätzlich an der alten, national-egoistischen Orientierung festgehalten — in einer Zeit, in der die Organisierung völkerverbindender Ausgleiche notwendig gewesen wäre. Die hohe Politik war sozusagen nur eine Dépendance, ein Anhängsel und Werkzeug des Militarismus. Sie hat durch ihre vielfach verschlungenen und vieldeutigen Verträge die Anlässe zum Weltkrieg nur vermehrt. Natürlich darf man deswegen die Schuld am Weltkrieg nicht auf sie allein schieben! Der Vortragende suchte nun zu beweisen, dass eine Wendung zum Bessern nur möglich sei, wenn die in weite Kreise gedrungene macchiavellistische Anschauung, dass Politik und Moral nichts miteinander zu tun hätten, dass der Staat dem Sittengesetz nicht unterliege, sondern mit allen Mitteln nach Macht streben müsse, überwunden werde. Als Träger dieser Anschauung im modernen Deutschland nannte er Bismarck, Treitschke und Bernhardi. Das Buch des Letztgenannten sei in England in mehreren hunderttausend Exemplaren verbreitet worden und so sei es öffentliche Meinung in England geworden, dass das durch keine moralische Bedenken gehemmte Streben nach Macht, Deutschlands innerstes Wesen sei. Diese Meinung sei falsch. ,Mein Vortrag ist ein Protest gegen die Auffassung, dass Treitschke und Bernhardi das letzte Wort des deutschen politischen Denkens ausgesprochen haben’. Der Redner setzte nun auseinander, dass nach seiner Meinung Macht nur das Äusserlichste des Staates sei, seine innere Stärke könne nur das Recht sein. Gegen Treitschke sei zu sagen: Staat ist Organisation, jedes einseitige Machtstreben aber wirkt desorganisierend. Heute mache die Tatsache des Internationalismus, der wirtschaftliche und kulturelle Tauschverkehr der Nationen, eine neue Orientierung aller staatlichen Politik notwendig. Die christliche Auffassung, dass sich der Staat dem Sittengesetz unterzuordnen habe, müsse in der innern und äussern Politik zur Geltung kommen. Die Staatsmänner der Zukunft werde man danach beurteilen, ob sie verstehen, ihr Volk der Völkergemeinschaft einzuordnen. Wenn in der internationalen Politik das Sittengesetz zur Geltung komme, werden auch die Probleme der innern Politik eine gedeihliche Lösung finden. Mögen sich die Zentralmächte, wenn sie siegen, ihrer Verantwortung bewusst sein!»

Dass solches öffentlich gesagt werden kann, ist hocherfreulich. Es ist der Geist des Pazifismus, der hier zum Ausdruck kommt. Försters Vorwurf, dass sich die Hohe Politik unsrer Tage nicht im Einklang zu setzen verstand mit den Organisationsnotwendigkeiten der modernen Welt, bildet die Grundlage der pazifistischen Kritik. Ich habe (sieh oben, unterm 10. November) das Wesen des Militarismus aus diesem Zwiespalt erklärt.

Mir gibt die Tatsache zu denken, dass man uns Pazifisten weder gestattet hätte, diese Ausführungen öffentlich zu machen, noch hätte man sie unwidersprochen hingenommen. Es musste ein Mann kommen, dem nicht das Stigma des Pazifismus anhaftet. Das braucht uns aber nicht zu erschrecken. Es ist gar nicht notwendig, dass wir direkt wirken. Wenn diejenigen, deren Rock vom Kampfe noch nicht so zerfetzt ist wie der unsrige, bessern Einfluss gewinnen als wir selbst, so begnügen wir uns gern damit, wenn sie sich zu Dolmetschern unsrer Ideen machen. Wir schicken neue frische Truppen vor. Die Hauptsache bleibt, dass in der von uns gezeigten Richtung gewirkt wird.